Thomas Mann hat Spuren in Europa und im amerikanischen Exil hinterlassen – in Häusern, Texten und Erinnerungen. Zum Jubiläum #Mann2025 begibt sich Tina Rausch auf eine vielschichtige Reise zu fünf Orten des Netzwerks «Thomas Mann International» sowie zu weiteren Wohnhäusern: vor Ort, digital, in der Literatur und im Gespräch. Eine persönliche Annäherung an Thomas Mann – geprägt von lebendigen Erinnerungen und Anekdoten, verwaisten Häusern, einem literaturfernen Baustellenleiter und dem Zauber von Blumengärten.
Von Lübeck bis Los Angeles: Unterwegs mit «Thomas Mann International»
Thomas Mann steht international für Weltliteratur, europäische Kultur und humanistische Werte. Sein Lebensweg führte von Lübeck hinaus nach Europa und in die Welt. Diese Stationen spiegeln unsere fünf Häuser aus vier Ländern wider, die sich im Dezember 2017 zum Netzwerk ‹Thomas Mann International› zusammengeschlossen haben […]. Wir sind Archive, Bibliotheken, Erinnerungsorte, Forschungsstellen, Literaturhäuser, Kultureinrichtungen und Residenzen …1
So stellt sich das Netzwerk TMI online vor. Die fünf Häuser sind:
- das Buddenbrookhaus/Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum (Lübeck)
- das Thomas Mann House (Los Angeles/USA, Villa Aurora & Thomas Mann House e. V.)
- die Monacensia im Hildebrandhaus (München)
- das Thomo Manno kultūros centras/Thomas-Mann-Kulturzentrum (Nida/Litauen)
- das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich (Zürich/Schweiz)
Zum Jubiläumsjahr #Mann2025 startete ich ein Projekt, auch Challenge genannt: Ich möchte alle fünf Häuser erkunden – am besten real, notfalls virtuell sowie in der Literatur und mittels persönlicher Gespräche.
Das Buddenbrookhaus in Lübeck: Under Construction 1

Schon Mitte Oktober 2024 reiste ich in Thomas Manns Geburtsstadt Lübeck. Dort fand ich auf einem literarischen Spaziergang Davos an der Trave, besuchte die «Zauberberg»-Ausstellung «Fiebertraum und Höhenrausch» im St. Annen-Museum – und stand in der Mengstraße 4 vor einem verrammelten Buddenbrookhaus.

Der Stammsitz der Lübecker Senatorenfamilie Mann ging als Handlungsort von Thomas Manns Debütroman «Buddenbrooks» in die Weltliteratur ein.
Man saß im ‹Landschaftszimmer›, im ersten Stockwerk des weitläufigen alten Hauses in der Mengstraße, das die Firma ‹Johann Buddenbrook› vor einiger Zeit käuflich erworben hatte und das die Familie noch nicht lange bewohnte. […]
Thomas Mann2
Draußen, jenseits der Straße, war schon jetzt, um die Mitte des Oktober, das Laub der kleinen Linden vergilbt, die den Marienkirchhof umstanden, um die mächtigen gotischen Ecken und Winkel der Kirche pfiff der Wind, und ein feiner, kalter Regen ging hernieder.

Ich raschelte durchs Lübecker Laub zum Infocenter Buddenbrooks am Markt und erfuhr: Das Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum in der Mengstraße soll 2030 als das NEUE Buddenbrookhaus wiedereröffnen – dank des hinzuerworbenen Nachbargrundstücks Mengstraße 6 auf einer doppelt so großen Fläche. Bis dahin gibt es an verschiedenen Orten Sonderausstellungen über die literarischen Buddenbrooks und die realen Manns.3
Das Thomas Mann House in Pacific Palisades: Under Construction 2
Vor einer Baustelle stand auch mein Münchner Freund André, als er im September 2017 Manns Fährte im Exil in Pacific Palisades folgte. Dass der Autor von 1942 bis 1952 in einer nach eigenen Vorstellungen erbauten Villa am San Remo Drive 1550 wohnte, wusste André aus Heinrich Breloers Buch «Die Manns: Ein Jahrhundertroman». Mir kommt ein Brief in den Sinn, in dem Thomas Mann von der Gegend schwärmt:
Ich treibe es so unter äußeren Umständen, für deren Gunst ich nicht dankbar genug sei kann – in dem schönsten Arbeitszimmer meines Lebens. Die Landschaft um unser Haus herum, mit dem Blick auf den Ozean, sollten Sie sehen; den Garten mit seinen Palmen, Öl-, Pfeffer-, Citronen und Eukalyptus-Bäumen, den wuchernden Blumen, dem Rasen, der wenige Tage nach der Saat geschoren werden konnte.
Thomas Mann4

Vor Ort suchte André nach einem Hinweis auf den berühmten ehemaligen Bewohner. Ein vorbeischlendernder Mann entpuppte sich als Baustellenleiter und bestätigte, dass hier einst «some popular German author» wohnte. Genaueres wisse er nicht. Er lud zur Hausbesichtigung ein, doch leider, so André, «war alles leergeräumt».5


Im Juni 2018 wurde die von der Bundesregierung Deutschland erworbene Villa als Residenzhaus und transatlantischer Debattenort eröffnet.6 Von den Waldbränden in Kalifornien Anfang 2025 blieb sie weitgehend verschont. Das Fellowship-Programm war dennoch vorerst ausgesetzt – und meine Reisepläne in die USA angesichts der momentanen politischen Situation sind es auch.
Von der Monacensia zu anderen Münchner Thomas-Mann-Häusern
Also auf zum Heimspiel: Die Monacensia im Hildebrandhaus ist mir seit vielen Jahren vertraut. André kennt sie bislang von außen und digital durch das MON_Mag. In den Osterferien 2025 treffen wir uns zu seinem ersten realen Besuch – und stehen vor einem verschlossenen Haus. Haben wir etwas mit den Öffnungszeiten verwechselt? Zum Glück ist das Thomas-Mann-Alternativprogramm rasch gefunden: Nur knapp anderthalb Kilometer von der Monacensia entfernt liegen zwei seiner mindestens neun ehemaligen Münchner Wohnstätten:7
- Von Oktober 1910 bis Januar 1914 wohnte die Familie in der Mauerkircherstraße 13/II und
- von Januar 1914 bis Februar 1933 in der Poschingerstraße 1 (seit 1956 Thomas-Mann-Allee 10).


An den Häusern erinnern Tafeln an den Autor, begehbare Gedenkorte sind es nicht. Vor Manns Wohnung in der Mauerkircherstraße steht André erstmals, die Villa im Herzogpark ist Teil seines Alltags: Sie markiert den Wendepunkt seiner Joggingstrecke. Es fasziniert ihn, ein Haus zu sehen, in dem Thomas Mann einst gelebt hat.8 André stellt sich die Villa als Dreh- und Angelpunkt der Manns vor, und Breloer schreibt: «Bis zum Jahr 1933, dem Beginn des Exils, bleibt die ‹Poschi› das Lebenszentrum der Familie.»9 Dass sie heute verwaist ist, passt für André nicht ins Bild: «Das könnte so ein toller, lebendiger Ort sein. Doch seit ich diese Villa entdeckt habe und regelmäßig vorbeijogge, ist hier absolut nichts los.»

Das Thomas-Mann-Kulturzentrum in Nida: eine Idylle auf Zeit
Die Ruhe und Abgeschiedenheit faszinierte wiederum meine Freundin Silke, als sie 2016 auf ihrer Litauenreise Manns ehemaliges Ferienhaus in Nida, zu Deutsch Nidden, auf der Kurischen Nehrung an der Ostsee besuchte.

Trotz des immensen touristischen Ansturms spürte Silke die inspirierende Wirkung. Als ersten Eindruck nennt sie die entspannte, friedliche Atmosphäre und «vielleicht die Farben». Sie erinnert sich an einen wunderschönen Blumengarten, ein Haus mit Fensterläden und einen hinreißenden Blick aufs Wasser: «Ich konnte mir bildhaft vorstellen, wie Thomas Mann hier schon frühmorgens seine Gedanken zu Papier gebracht hat.»
Zur sommerlichen Heimat ist mir ja auch, seit Jahren nun schon, die Kurische Nehrung geworden, insbesondere Nidden, wo ich mein Sommerhaus gebaut habe (…). Für die eigentümliche Großartigkeit der Dünen-, Heide- und Meereslandschaft von Nidden wird jeder zeugen, der sie einmal gesehen hat.
Thomas Mann10
Von der Führung durchs Haus erzählt Silke wenig – außer dass viel los gewesen sei. Geblieben ist ein Grundgedanke, der sie schon bei der «Zauberbergs»-Lektüre im Deutschunterricht beeindruckt hat: «dass jemand auf drei Wochen irgendwohin kommt – in diesem Fall ins Sanatorium – und dort jahrelang verweilt». Damals in Nida, im Garten inmitten der Blumen, hatte sie genau dieses Gefühl: «keine Notwendigkeit, jemals wieder zu gehen.»
Für den Autor war es nach drei Jahren vorbei:
Thomas Mann hat in Nida drei Sommer verbracht, die in seinem Leben sehr wichtig und wahrscheinlich schicksalhaft gewesen sind. […]
Tomas Venclova11
Grundsätzlich war das Leben, nicht nur der Manns, zu jener Zeit nicht eben idyllisch: Es verfinsterte sich durch die Vorahnung der nahenden Diktatur und eines heraufziehenden Krieges. Jeder dieser drei Sommer – 1930, 1931 und 1932 – fiel mit einer politischen Krise zusammen.

Das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich: die heimliche Heimat?
Im Frühjahr 1933 ging Thomas Mann ins Exil. Er ließ sich in Küsnacht bei Zürich nieder, wo er bis zu seiner Emigration in die USA lebte. 1947 beschreibt er, was ihm die Schweiz seitdem bedeutet:
Denn eine Heimat war es [das Land] mir geworden, als Deutschland mir verlorengegangen war. Heimat, Schutz und Arbeitsfrieden hat es mir geschenkt, fünf Jahre lang, bevor ich nach Amerika ging, und ich habe auch nie den Kontakt mit der Schweiz und schweizerischem Geist verloren …
Thomas Mann12
Und obwohl der Schriftsteller auch seinen Lebensabend am Zürichsee verbrachte,13[13] werde dieser Ort heute weniger mit ihm Verbindung gebracht, betont der «Zeit»-Redakteur Alexander Cammann:
Umso ungerechter ist bis heute die lesende Nachwelt: Thomas Mann gehört für sie nach Lübeck, der Stadt seiner Herkunft […]. Womöglich kennt sie noch den Wahlmünchner Thomas Mann, der in Bayern seine Frau Katia kennenlernte, eine Großfamilie gründete und eine eindrucksvolle Villa in der Poschingerstraße bauen ließ. Schließlich weiß man vielleicht um den Emigranten Thomas Mann in Kalifornien, der unter Palmen sein Domizil in Pacific Palisades bezog […]. Aber Zürich?14
Tatsächlich ist das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich neben der Monacensia das Haus des TMI-Netzwerks, das ich am häufigsten besuche. Bislang jedoch rein digital: Hier befindet sich Manns literarischer Nachlass inklusive Fotoarchiv mit rund 2000 rechtefreien Bildern, aus dem alle historischen Fotos dieses Beitrags stammen. Die in München und Nürnberg entstandene «Thomas-Mann-Sammlung Ida Herz» fand statt in der Monacensia in Zürich eine Heimat. In der Monacensia wiederum wurde im Literaturarchiv der Familie Mann jüngst der Nachlass von Elisabeth Mann Borgese mit über 5000 Briefen ergänzt. Die dortige Ausstellung Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann wird im Januar 2026 abgebaut. Wie oft ich sie mir bis dahin angesehen habe, kann ich nicht mehr zählen. Mein realer Besuch der Züricher Dauerausstellung Im Schreiben eingerichtet. Thomas Mann und sein Arbeitszimmer steht hingegen noch aus. Noch läuft das Jubiläumsjahr. Meine Challenge auch.


Literatur und Quellen
- Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Fischer TB 1990.
- Heinrich Breloer und Horst Königstein: «Die Manns: Ein Jahrhundertroman», Fischer TB 2003.
- Dirk Heißerer: «Im Zaubergarten», C.H.Beck 2005.
- Hans Wißling und Yvonne Schmidlin (Hg.): «Thomas Manns. Ein Leben in Bildern», Artemis 1994.
- Neue Rundschau, Band 2025/1, «Thomas Manns 150. Geburtstag», S. Fischer 2025.
- DIE ZEIT – Geschichte 2/2025, «Thomas Mann», Zeitverlag Gerd Bucerius 2025.
- www.thomasmanninternational.com/de/wer-sind-wir- ↩︎
- Thomas Mann: Buddenbrooks, Bd. I, S. 12 und 13. ↩︎
- Weitere Infos zum Museum Buddenbrookhaus unter www.buddenbrookhaus.de/museum/museum und zum Umbauprojekt unter www.buddenbrookhaus.de/buddenbrookhaus-2018 ↩︎
- Brief an Herman Hesse, 15.3.1942, zitiert nach Wysling und Schmidlin, S. 386. ↩︎
- Mehr zur Geschichte und Rettung des Hauses unter www.vatmh.org/de/Geschichte-TMH.html ↩︎
- Die Eröffnungsrede «The Struggle for Democracy» von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist online abrufbar unter www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2018/06/180619-USA-Konferenz-Democracy.html?templateQueryString=The+Struggle+for+Democracy&submit=Suchen ↩︎
- Vgl. Wolfgang Görl: «Auf den Spuren von Thomas Mann», Süddeutsche Zeitung, 22.11.2020, www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-spaziergang-schwabing-maxvorstadt-thomas-mann-1.5120624 Weitere literarische Spaziergänge zu Thomas Mann finden sich in der Rubrik Literaturland im Literaturportal Bayern. ↩︎
- Tatsächlich handelt es sich um eine Rekonstruktion. Darüber informiert das Thomas-Mann-Forum München e.V. auf der Gedenktafel am Haus sowie online unter www.tmfm.de/thomas-mann-haus. Weitere Hintergrundinfos zur bewegten Geschichte des Hauses unter www.sueddeutsche.de/muenchen/immobilie-in-bogenhausen-manns-villa-wird-manns-villa-1.2433312 und www.sueddeutsche.de/muenchen/wohnen-im-herzogpark-die-teuerste-villa-muenchens-1.2358730 ↩︎
- Breloer, S. 10. Die Lebendigkeit des Orts bestätigt auch Dirk Heißerer: «Der Herzogpark war 1914 tatsächlich, wie Peter de Mendelssohn ihn nennt, ‹eine ideale Kinderlandschaft›. Erika und Klaus [Mann] bildeten den Kern einer später gefürchteten ‹Herzogpark-Clique›, die sich zu allerlei Streichen, manchmal mit krimineller Note, verstieg.» Im Zaubergarten, S. 254. ↩︎
- Thomas Mann: [Ein schönes Fleckchen Erde], Bd. XI, S. 426. ↩︎
- Tomas Venclova: Das Sommerhaus auf der Kurischen Nehrung. In: Neue Rundschau, Band 2025/1, S. 49 und 52. ↩︎
- Thomas Mann: [Wiedersehen mit der Schweiz], Bd. XIII, S. 216. ↩︎
- «Alle drei Wohnhäuser Thomas Manns am Zürichsee sind noch erhalten, in Küsnacht (1933–1938), Erlenbach (1952–1954) und Kilchberg (1954–1955). Sie befinden sich in Privatbesitz und sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.» Vgl. www.thomasmanninternational.com/de/zuerich ↩︎
- Alexander Cammann: Dem Herzen nahe. In: DIE ZEIT – Geschichte 2/2025 «Thomas Mann», S. 108. ↩︎



