Zwei Villen im Münchner Bogenhausen, nur wenige Minuten voneinander entfernt: In der einen schrieb Dirk Kaesler an seiner Biografie Max Webers, in der anderen arbeiteten einst seine Eltern für den Lebensborn. Was Thomas Manns ehemalige Villa mit seiner eigenen Familiengeschichte verbindet – eine persönliche Spurensuche und ein Beitrag zur Dauerausstellung »Maria Theresia 23«.
Was verbindet die Biografie zweier benachbarter Häuser im großbürgerlichen Villenviertel Bogenhausen?
Von der »Mona« zur »Poschi«: Stationen meines Schreibens
Während ich vom 1. April 2003 bis zum 30. April 2005 als offizieller »Writer in Residence« im Turmzimmer der Monacensia an meiner Max-Weber-Biografie schrieb,1 wurde mir das Hildebrandhaus zunehmend wichtiger.
Damals konnte ich nicht ahnen, dass mir ein anderes Haus, ganz in der Nähe, für mein späteres Schreiben ebenso wichtig werden sollte, wenn auch in gänzlich anderer Weise. Zwischen der »Mona« in der Maria-Theresia-Straße 23 und dem ehemaligen Wohnhaus von Thomas Mann (heute Thomas-Mann-Allee 10) liegen – laut Google Maps – gerade mal 1,4 km Entfernung. Mit dem Fahrrad, mit dem ich von meiner damaligen Wohnung in der Zweibrückenstraße zum Hildebrandhaus fuhr, sind das fünf Minuten.
Warum wurde mir die »Mona« nicht nur als Schreibstätte wichtig? Es war das ganze Haus, das mir dabei half, das Milieu der Familie Weber aus Bielefeld und der Familie Fallenstein-Souchay aus Heidelberg und Frankfurt am Main sehr viel besser zu verstehen, als wenn ich in meinem Institutszimmer in Marburg oder an meinem häuslichen Schreibtisch geschrieben hätte. Allein der Treppenaufgang vom Hauseingang hinauf in »mein« Turmzimmer vermittelte mir das Einfühlungsvermögen für jene Lebenswelten des deutschen und zugleich kosmopolitischen Besitz- und Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts, zu denen auch die weitverzweigte Familie Weber zählte. Es gibt dieses imponierende Foto »Der Hausherr im Treppenturm, ca. 1910«.2 Ebendiese Treppe stieg auch ich hinauf, um über jenes deutsche Bürgertum nachzudenken, das spätestens mit dem Beginn der NS-Herrschaft untergegangen ist.

Die Gemeinsamkeiten erkennt, wer diese drei Gebäude miteinander vergleicht:
- das Bielefelder Wohnhaus der Familie von Karl August Weber (Am Oberwall 33c)
- die Fallensteinsche Villa in Heidelberg (Ziegelhäuser Landstraße 17) und
- das Hildebrandhaus.


Sowohl die dominant kleinbürgerlich geprägte Bundesrepublik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als auch die sich proletarisch gebende DDR versuchten einigermaßen erfolgreich, noch die letzten Erinnerungen an diese vernichteten Lebenswelten zu tilgen.
In meiner Weber-Biografie habe ich versucht, diese untergegangene Welt einer heutigen Leserschaft zu vermitteln. Man bewegt sich ganz anders in einem solchen Haus, wie die »Mona« es ist, als wenn man in eine Mietswohnung eintritt. Irgendwann stellte ich fest, dass ich mich anders kleidete, als ich das tat, wenn ich in mein Marburger Institut ging. Ich merkte, dass ich mich aufrechter, formeller hielt, wenn ich die Treppe zum Turmzimmer hinaufstieg. Das große Haus begann, auf mich einzuwirken. Wenn ich von meinem Schreibtisch nach oben auf die Decke schaute, freute ich mich über die italienischen Pflanzenmotive, die Adolf von Hildebrands Töchter Irene und Elisabeth für die Bibliothek ihres Vaters gemalt hatten. Die gelben Zitronen, die aus den dunkelgrünen Blättern leuchteten, freuten meine Sinne und ließen mich fröhlich weiterschreiben.

Die »Poschi« und der Lebensborn: Ein NS-Verein im Haus der Manns
Was aber habe ich mit jenem anderen Haus zu tun, dessen Adresse am 11. November 1937 noch Poschingerstraße 1 lautete? An jenem Tag wurde das ehemalige Wohnhaus der Familie von Thomas Mann einem Verein der SS übertragen, der den Namen »Lebensborn e.V.« trug. Dieser Verein, gegründet im Dezember 1935 in Berlin, gab seinen dortigen Vereinssitz auf und richtete seine neue Zentrale in ebenjener Villa ein, die die Familie Mann Anfang des Jahres 1914 bezogen hatte. Die »Poschi«, wie die Kinder der Manns das Haus nannten, war eine stattliche Villa mit Keller, Hochparterre, Ober- und Dachgeschoss. Wie die »Mona« lag sie oberhalb der Isar in standesgemäßer Nachbarschaft des ehemaligen Dorfes Bogenhausen, das sich nach seiner Eingemeindung 1892 zum vornehmsten Villenstadtteil der bayerischen Landeshauptstadt entwickelte.
Beide Häuser, die »Mona« und die »Poschi«, erlebten vergleichbare Schicksale. Sie begannen mit der Selbstinszenierung zweier männlicher Künstler:
- hier der prominente und überaus erfolgreiche Bildhauer Adolf von Hildebrand (1847–1921),
- dort der prominente und überaus erfolgreiche Schriftsteller Thomas Mann (1875–1955).
Beide Männer scharten in ihrer Villa vor allem ihre Familie um sich: Adolf Hildebrand, seit 1903 Ritter von Hildebrand, seine Ehefrau Irene, geborene Schäuffelen, geschiedene Koppel, mit ihren sechs gemeinsamen Kindern und den von ihm adoptierten Sohn aus der ersten Ehe seiner Frau. Thomas Mann, seine Ehefrau Katia, geborene Pringsheim, und ihre sechs gemeinsamen Kinder.
In beiden Häusern gaben sich prominente Persönlichkeiten die Klinke in die Hand, vor allem Künstlerkollegen. Hildebrand war zudem eng verbunden mit dem bayerischen Königshof, insbesondere dem Prinzregenten Luitpold und dem Kronprinzen Rupprecht. Am 18. Januar 1921 starb Adolf von Hildebrand in der geliebten Villa.
Zwischen der bayerischen Revolution und dem Reichstagsbrand begrüßte der weltberühmte Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann Künstler, Musiker und Schriftsteller aus der ganzen Welt. Mann verließ seine Bogenhausener Villa im Frühjahr 1933, als er von einem Winterurlaub in der Schweiz nicht mehr nach München zurückkehrte. Die »Bayerische Politische Polizei« durchsuchte das vollmöblierte Haus und beschlagnahmte es nebst Inventar ebenso wie das Bankkonto. Die vom General der Polizei Reinhard Heydrich erlassene »Schutzhaft« konnte nicht vollzogen werden, da der verfemte Schriftsteller das Deutsche Reich in Richtung Zürich verlassen hatte. Am 2. Dezember 1936 wurde Thomas Mann die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, da er »nicht würdig sei, den Namen Deutscher zu tragen«. Nur wenige Möbelstücke und einige Bücher konnten über Umwege in das Schweizer Exil geschafft werden, alles andere wurde versteigert.
Meine Eltern und der Lebensborn: Eine biografische Enthüllung
Was ich selbst mit den nachrückenden Mietern dieses ehrwürdigen Hauses zu tun habe? Meine Eltern arbeiteten beide hauptberuflich für diesen SS-Verein.
Meine Mutter, die 30-jährige Kriegerwitwe Emmi Elisabeth Rosa Maria Käsler, geborene Mahrenholz, war im Sommer 1940 von Berlin nach München gezogen und nahm eine Tätigkeit als einfache Stenotypistin beim «Lebensborn e.V.« auf. Mein leiblicher Vater, der SS-Untersturmführer Rudolf Herbert, ebenfalls Jahrgang 1910, war nach seinem Kriegseinsatz im »Ostfeldzug« und einem anschließenden Verwaltungsführer-Lehrgang der Waffen-SS in Dachau zum 6. August 1942 hauptamtlich zum »Lebensborn e.V.« abkommandiert worden. Meine Eltern lernten sich in der Dienststelle dieses Vereins kennen.

Aber sie begegneten einander nicht in der »Poschi«. Ab dem 1. Januar 1940 war der Verwaltungssitz des Vereins bereits von der Poschingerstraße 1 in den Gebäudekomplex in der Herzog-Max-Straße 3 bis 7 in der Münchner Innenstadt verlegt worden.3 Meine Mutter dürfte dort ihren Dienst angetreten haben, zwei Jahre später ging mein Vater in den Räumen in der Nähe des Karlsplatzes (»Stachus«) ein und aus. Dieser mit einer BDM-Untergauführerin verheiratete Mann, Vater eines unehelichen und eines ehelichen Sohnes, begann ab dem Januar 1943 ein Liebesverhältnis mit der Kriegerwitwe Käsler, meiner Mutter. Wie diese Geschichte weiterging, die zu meiner Geburt im Wiesbadener SS-Heim »Taunus« im Oktober 1944 führte, habe ich mit meinem Buch »Lügen und Scham. Deutsche Leben« nachgezeichnet.4


Als ich noch an meiner Biografie Max Webers im Turmzimmer der »Mona« schrieb, konnte ich nicht ahnen, dass ich mich zwanzig Jahre später intensiv mit der Geschichte eines Vereins auseinandersetzen würde, der in einem Haus gewirkt hatte, das nur wenige Minuten entfernt lag. Nach meinem täglichen Spaziergang zur St.-Georgs-Kirche und zu ihrem Friedhof hätte ich unschwer das Isarhochufer nach unten in Richtung Isar weitergehen und die Montgelasstraße überqueren können. Und schon wäre ich vor der Replik jenes Hauses gestanden, das dereinst einem Verein zur Verfügung gestellt wurde, ohne den ich nicht existieren würde.
Vom Lebensborn zur Erinnerungskultur: Geschichten zweier Villen
Um es extrem verkürzt in Erinnerung zu rufen: Der »Lebensborn e.V.« wurde von Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS, gegründet. Die nationalsozialistische und rassistische Ideologie sollte in den elf Heimen auf dem Gebiet des »Großdeutschen Reichs« dazu führen, dass die Idee des »guten deutschen Blutes« durch möglichst viele Nachkommen in menschliche Kinderleben umgesetzt wurde. Für den »Adel der Zukunft« durften nur ausgewählte Frauen ihre Kinder in Lebensborn-Heimen zur Welt bringen: ein »Arier-Nachweis« musste vorgelegt werden. Zumeist handelte es sich dabei um außereheliche Beziehungen von SS-Männern mit Frauen, die mit dem NS-System sympathisierten. Im Laufe der Zeit kamen zunehmend mehr auch verheiratete Mütter zur Entbindung in die Heime, deren Männer bei der Polizei oder SS waren.3

Eine weitere Gemeinsamkeit beider benachbarter Häuser ist, dass sie nach Kriegsende von der völligen Vernichtung bedroht waren. Julian Nida-Rümelin hat in seinem Beitrag seine Darstellung der Rettung der »Mona« geliefert. Die Posse um den endgültigen Abriss der »Poschi« und den »Wieder«-Aufbau einer maßstabgetreuen Replik lässt sich auf dem Online-Lexikon der Wikipedia nachlesen. Die schönste Version dieser Villa stand im Jahr 2001 auf dem Gelände der Bavaria Filmstudios in Geiselgasteig bei München, wo sie als Drehort für den mehrteiligen Dokumentarfilm »Die Manns – Ein Jahrhundertroman» diente.4

Zwei Münchner Häuser mit zwei verschiedenen und doch vergleichbaren Biografien, unendlich viele Geschichten, sehr viele Menschen. Einige davon werden in diesem Magazin erzählt. Andere harren noch ihrer Nachzeichnung. Vielleicht werden sie in der »Mona« geschrieben.

- Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. München: C.H.Beck 2014. ↩︎
- Wolfgang Kehr und Ernst Rebel: Zwischen Welten. Adolf von Hildebrand (1847 bis 1921). Person, Haus und Wirkung. München: A1 Verlag 1998, S. 50. ↩︎
- Für weitere Details ausschlaggebend: Angelika Baumann und Andreas Heusler (Hrsg.): Der Lebensborn in München. Kinder für den »Führer«. München: Franz Schiermeier Verlag 2013. ↩︎
- Dirk Kaesler: Lügen und Scham. Deutsche Leben. Berlin: Vergangenheitsverlag 2023. ↩︎
- Siehe Georg Lilienthal: Der »Lebensborn e.V.«: ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik.3.Aufl. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2003; https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/284787/der-lebensborn-e-v-und-die-zwangsverschleppung-wiedereindeutschungsfaehiger-kinder/ ↩︎
- de.wikipedia.org/wiki/Thomas-Mann-Villa_(M%C3%BCnchen) ↩︎