Sommer-Leseaktion der Monacensia: Die Bücher von Elisabeth Castonier – Teil 1 | #FemaleHeritage

Bücher von Elisabeth Castonier in unserer Lounge-Ecke.

#FemaleHeritage führt zur Sommer-Leseaktion „Elisabeth Castonier“ in der Monacensia. Doris Nithammer verfasste – angeregt durch die Blogparade „Frauen und Erinnerungskultur“ – einen umfänglichen Artikel zur Schriftstellerin Elisabeth Castonier. Wir haben diesen zweigeteilt und flankieren die Mini-Serie mit einer Leseaktion zur Schriftstellerin: In der Lounge im ersten Stock unserer Bibliothek richten wir für den Sommer einen Handapparat mit den Büchern der Autorin ein – wir laden euch herzlich zum Verweilen und Reinlesen ein, gerne auch zum Ausleihen! 

Im Folgenden bespricht Doris Nithammer aus persönlicher Sicht die einzelnen Bücher von Elisabeth Castonier aus der Nachkriegszeit. Der zweite Teil zu Elisabeth Castonier als Journalistin und Schriftstellerin erscheint am 4. August hier im Blog.

Sommer-Leseaktion der Monacensia: Die Bücher von Elisabeth Castonier. #FemaleHeritage brennt nach!
Sommer-Leseaktion der Monacensia: Die Bücher von Elisabeth Castonier. #FemaleHeritage brennt nach!

Die Bücher von Elisabeth Castonier

Stürmisch bis heiter. Memoiren einer Außenseiterin (1964)

Elisabeth Castonier (1894–1975) schildert ihre Kindheit zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Dresden und Paris, später in Berlin. Als junge Erwachsene lebt sie in München und in wechselnden Städten, in den späten 1920er Jahren bis 1934 in Berlin als Autorin. Mindestens eines ihrer Theaterstücke landete 1933 auf dem Scheiterhaufen der Bücherverbrennung. 1934 flieht sie vor den Nazis zunächst nach Wien, dann nach Italien, schließlich nach England. In England beginnt sie im Alter von 50 Jahren auf dem Bauernhof ihrer Freundin Jane noch einmal völlig neu und wird Landarbeiterin. Nach ihrer Erkrankung im Alter von 60 Jahren beginnt sie Mitte der 1950er Jahre erneut zu schreiben. Das Buch enthält eine äußerst spannende Schilderung ihres bunten Lebens und des Zeitgeschehens. 

Unbedingt lesen, ein starkes Buch. Elisabeth Castonier schreibt in einer klaren Sprache – geschult in den Feuilletons der 1920er Jahre – und schildert das Zeitgeschehen aus der Perspektive des Lebens einzelner Menschen und des Alltagsgeschehens. Besonders stark sind die Schilderungen der Nazizeit. Sie schreibt an Mary Tucholsky: 

Und jetzt leiden doch alle an Amnesia Germanica, keener will nichts gewusst haben. 

Brief 540, ca. Sept. 1973 

Dieses Buch beweist das Gegenteil. Es war in den 1960er Jahren ein Bestseller. Heute ist es nur noch antiquarisch erhältlich, meist als Taschenbuch, selten ergattert man eine gebundene Ausgabe. 

Die professionelle Buchkritik schätzte Stürmisch bis heiter wenig. Exemplarisch ist eine herablassende Buchkritik im Spiegel (1965). Die kritisierende Person scheint das Buch nur bis zur Hälfte gelesen zu haben, bis zur Ehe von Elisabeth Castonier, und vermisst „Amouren“. Na dann. Interessant ist die Bemerkung, es handele sich um „Lebensrohstoff“. Ich übersetze: Gemeint ist, der Inhalt sei interessant, es fehle aber an künstlerischer Ausarbeitung, also an Form. 

Elisabeth Castonier mochte den Titel nicht. Sie legte einem Brief an Mary Tucholsky an den Verleger bei: 

Und dies, nachdem mein Memoirentitel ‚Das große Abenteuer´ (so wurde auch der Ausschnitt in der Welt Mai 62 gebracht), in das kitschige ‚Stürmisch Bis Heiter´ umgewandelt UND mit einem Untertitel versehen wurde, gegen den ich vergeblich protestiert hatte.

Brief 348 an Mary Tucholsky, 12.12.1966 

Elisabeth Castoniers erste Titelidee war „Gelebt, überlebt, gelacht“ (Brief 188 an Mary Tucholsky, 04.11.1963). 

Hoffentlich wird das Buch zum 50. Todestag von Elisabeth Castonier (2025) neu aufgelegt! 

Mill Farm (Trilogie 1959–1964)

  1. Mill Farm und ihre zwei- und vierbeinigen Originale (1959) / Mill Farm – Menschen und Tiere unter einem Dach
  2. Die Herzogin Nana. Neue Geschichten von Mill Farm (1960)
  3. Die Vogelscheuche und andere Geschichten aus einem englischen Cottage (1964)

Ein Menschenleben mit Tieren (1965). Ausgewählte Erzählungen aus den drei Bänden.

Mill Farm (1973). Sammelband mit allen drei vollständigen Bänden, die darin andere Titel haben: Mill Farm, Abschied von Mill Farm, Neues Leben im alten Cottage. 

Elisabeth Castonier und ihre Freundin Jane leben auf einem Bauernhof. Die Geschichten handeln von Menschen und Tieren. Wenn man sie aber nur als harmlose Tiergeschichten liest, als leichte Unterhaltung, entgeht einem einiges. In Wirklichkeit geht es um das Werden und Vergehen des Lebens, und besonders um das Alt-Werden. Es sind warmherzige und poetische Bücher. 

Wenn ich nur einigen Menschen Freude mache und wenn nur einige Menschen erkennen, dass besonders Nana eine Auseinandersetzung mit dem Alter, mit dem Vergänglichen ist, bin ich froh. 

Brief 95 an Mary Tucholsky, 28.09.1961

Die germanistische Exilforschung verweist am Beispiel von Mill Farm auch auf „Die Tierwelt als Hilfsmittel zur sozialen Integration der ‚Refugees‘ aus dem Dritten Reich“ (S. 3). Zum Verhältnis Mensch und Tier bei Menschen im Exil gibt es einen Sammelband. Bei Degruyters kann man die spannende Einleitung lesen. 

Elisabeth Castonier verrät nicht, in welchem Verhältnis sie und ihre Freundin Jane (Janet Cristobelle Napier) stehen. Sind sie Freundinnen, die gemeinsam wohnen, oder sind sie ein Paar? Als Castonier 60 Jahre und krank ist, gibt Jane die Mill Farm nach zehn gemeinsam dort verbrachten Jahren auf. Beide ziehen zusammen in ein Cottage um. Dort leben sie gemeinsam bis zum Tod der Schriftstellerin mit 81 Jahren. In den Briefen an Mary Tucholsky wird das gemeinsame verbundene Leben deutlich. Elisabeth Castonier ist in ihren beiden letzten Lebensjahrzehnten krank und beeinträchtigt, Jane pflegt sie. In der Erzählung „Ziemlich laute Nacht“ gibt es ein Frauenpaar aus einer unsympathischen ehemaligen Hausangestellten und der Hausbesitzerin – ist dies ein ironischer Hinweis auf Elisabeth und Jane?

Seltsames Muster (1971)

Eine Fortsetzung der Erinnerungen in Form von einzelnen Geschichten zu einzelnen Menschen. Großartig. Klare Leseempfehlung. Leider sehr schwer erhältlich. 

Kritiken beschämend gut, erröte in einem fort, was mir Greisin schwerfällt.  

Brief 487 an Mary Tucholsky, 15.05.1971

Nein, kein 2. Band Memoiren. Sondern: Die 2 Kapitel, etwa 100 Seiten, die ich seiner Zeit aus ‚Stürmisch bis Heiter´ herausnahm, dazu Essays, 3 politische Märchen, ein großer Bericht über Broadmoor (…) usw. Nein – Fortsetzungsbände gibt es nicht.

Brief 346 an Mary Tucholsky, 06.12.1966

Unwahrscheinliche Wahrheiten (1975)

Mehr Erinnerungen in einzelnen Geschichten, aber auch Essays über Menschen, die Elisabeth Castonier nicht kannte, z. B. eine Transfrau zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Einige Stücke sind großartig, andere gefallen mir weniger. Es ist ihr letztes Werk und die letzte Geschichte darin („Schlüssel zur Vergangenheit“) ist gleichzeitig ein Schlusskapitel zu Mill Farm

Angèle Dufour / Die Sardinenfischer (1932, im Sammelband Dreimal Liebe 1975)

Die Geschichte spielt in einem französischen Fischerdorf. Die 15-jährige Angèle Dufour wird vom örtlichen Fabrikbesitzer schwanger, das Baby stirbt bei der Geburt. Angèle geht als Hausmädchen in die Stadt und erbt von ihrem dortigen Dienstherrn ein Vermögen. Dann kehrt sie in das Dorf zurück. Dort ist ihre inzwischen 15-jährige Schwester ebenfalls von diesem Fabrikbesitzer schwanger. Die Situation eskaliert. 

Der erste Teil im Dorf schildert brutale Ausbeutungsverhältnisse, der zweite Teil in der Stadt ist märchenhaft (mich erinnert Angèle an die Goldmarie von Frau Holle), der dritte Teil zurück im Dorf ist wieder in realistischem Stil. Zur Ausbeutung aller Einwohner*innen des Ortes, die vom Fischfang leben, kommt für die weiblichen jugendlichen Arbeiterinnen die sexuelle Ausbeutung durch den Fabrikbesitzer hinzu. 

Heute würde man dies eine intersektionale Sichtweise auf Class und Gender nennen. Es geht auch darum, inwieweit Sex einvernehmlich ist oder auch nicht, wenn Not, Ausbeutungsverhältnis, Altersunterschied, Geschenke, Alkohol eine Rolle spielen – ein aktuelles Thema, siehe #MeToo. Die Geschichte beleuchtet die Zwischentöne und den Themenraum, wenn Angèle in einem Bordell Rast macht und wenn sie gegenüber ihrem neuen Dienstherrn in der Stadt deutlich macht, dass sie keine Berührung möchte. Interessant ist auch das Gedankenexperiment: Was würde sich ändern, wenn jemand zu Geld kommt und materiell nicht mehr abhängig ist? Die Geschichte antwortet: Die Unterdrückungserfahrung sitzt seelisch tief. 

„Angèle Dufour“ wurde als Erzählung 1932 preisgekrönt, als Theaterstück Anfang 1933 in der Berliner Volksbühne aufgeführt und nach der Machtergreifung der Nazis schnell wieder abgesetzt. Dem Publikum gefiel es, die Kritik war gespalten, wie jene von Horst Schroeder in der Neuen Zürcher Zeitung bezeugt (NZZ 2. März 1933, Morgenausgabe, Nr. 375). Elisabeth Castonier selbst war weder mit ihrem Theaterstück noch mit der Aufführung zufrieden. Sie war aber stolz auf die Geschichte und auf den Preis dafür und veröffentlichte die Erzählung später nochmals in dem Sammelband Dreimal Liebe. 

Die Wutzlingerin / Katharina / Mena / Dorftragödie um Anna / Kleinstadttragödie (1932, 1952, im Sammelband Dreimal Liebe 1975)

Katharina Wutzlinger zieht ihre Tochter Philomena (Mena) alleine auf. Sie ist Hebamme und Heilkundige des Dorfes. Als Katharina erfährt, dass die 15-jährige Mena schwanger ist und einen illegalen Schwangerschaftsabbruch plant, will sie ihre Tochter schützen und nimmt den Eingriff selbst vor. Die Tragödie nimmt ihren Lauf. 

Elisabeth Castonier hat die Geschichte Anfang der 1930er Jahre geschrieben, als Frauen für illegale Abtreibungen noch ins Gefängnis kamen. Auch heute noch ist ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland „rechtswidrig, aber straffrei“, und in manchen Ländern komplett illegal. Elisabeth Castonier nennt die Geschichte ein „Kurpfuscher-Stück“ und stellt damit die Frage, ob die Abtreibung fehlerhaft vorgenommen wurde. Aber in der Erzählung ist die Hebamme durchaus medizinisch kompetent. Das Problem ist vielmehr die Illegalität, die sie daran hindert, zusätzliche ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Hebamme Katharina ist eine beeindruckende Frauengestalt. Das Thema der Rahmenbedingungen für einen Schwangerschaftsabbruch ist leider zeitlos. Die Dialoge sind teils bairisch.

Diese Geschichte als Theaterstück landete im Mai 1933 auf dem Scheiterhaufen der Bücherverbrennung. Nach dem Krieg versuchte Elisabeth Castonier sie nochmals als Theaterstück unterzubringen, stieß aber nirgendwo auf Interesse. Sie veröffentlichte sie nochmals als Erzählung „Mena“ in dem Band Dreimal Liebe (1975).[1]

Übrigens sind die Namen der Heldinnen wohl nicht zufällig. Elisabeth Castonier ist gläubige Katholikin, ihren Übertritt zum Katholizismus während des Exils in London schildert sie in Seltsames Muster, Kap. „Soeur Chandelle“. Philomena ist die Schutzheilige der Schwangeren und kleinen Kinder, Noella (s. u.) die an Weihnachten geborene … 

Bücher von Elisabeth Castonier in unserer Lounge-Ecke.
Bücher von Elisabeth Castonier in unserer Lounge-Ecke.

Magd in England / Lina (1967 und Sammelband Dreimal Liebe 1975)

Die 45-jährige Lina aus Bayern geht nach dem Zweiten Weltkrieg als Bauernmagd nach England. Sie verliebt sich in einen geflüchteten Mann (eine „Displaced Person“) aus Osteuropa und wünscht sich Ehe und Familie. Der Mann dagegen ist nicht an einer Bindung interessiert. Nach einer einzigen gemeinsamen Nacht ist Lina schwanger.

Es geht um Menschen, die eine Heimat finden wollen, und dazu unterschiedliche Wege gehen. Es geht um unterschiedliche Sichtweisen auf das gemeinsame Verhältnis. Es geht auch darum, inwieweit Sex einvernehmlich ist oder nicht, wenn es diese unterschiedlichen Sichtweisen gibt, und wenn eine Frau Nein zum gemeinsamen Sex sagt, aber trotzdem mitmacht, und auch Alkohol eine Rolle spielt, siehe „Nein heißt nein“. Ebenfalls ein aktuelles Thema. Und dann geht es darum, was es Ende der 1940er Jahre bedeutete, ein uneheliches Kind zu bekommen. Die Geschichte kommt auch in Mill Farm vor, dort heißt die Heldin Maria aus Niederbayern. Maria scheint es wirklich gegeben zu haben, in den Briefen an Mary Tucholsky schreibt Elisabeth Castonier auch, dass das Kind ihr Patenkind sei. Lina/Maria sprechen bairisch.[2]

Dreimal Liebe – Lina, Angèle, Mena (Sammelband 1975)

Diese drei Erzählungen stehen in einem Sammelband. Ob „Angèle“ und „Mena“ die Originalerzählungen sind oder überarbeitete Fassungen, weiß ich nicht. Nur die letzte Erzählung „Lina“ gibt es als einzelnes Buch Magd in England; ob beide Texte identisch sind, ist mir unbekannt. 

Drei taube Tanten (1957)

Drei junge Frauen – Engländerinnen, Schwestern, Tanten mütterlicherseits von Elisabeth Castonier – radeln zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Neapel nach Oberbayern an den Tegernsee und bleiben dort zu dritt bis ins hohe Alter. 

Eine ulkige, unterhaltsame Geschichte. Es geht darum, wie drei Frauen auf ihre Selbstbestimmung bestehen und einen ungewöhnlichen Lebensentwurf umsetzen. Die Erzählweise ist ziemlich linear, ohne Spannungsbogen, und lebt von den originellen Einzelheiten über das Leben der drei Hauptpersonen. 

Auch die drei englischen Tanten scheint es wirklich gegeben zu haben, sie werden auch in Stürmisch bis heiter und in den Briefen an Mary Tucholsky erwähnt.

Etwas laute Nacht (1966)

Eine Bombennacht in London während des Zweiten Weltkriegs. Ein Haus und seine Bewohnenden. Dazu ein Ausflug in einen benachbarten U-Bahnhof. Die Erzählung handelt davon, welche Menschen sich begegnen, welche Geschichte sie haben und was dann passiert.

Wieder die ziemlich lineare Erzählweise, ergänzt mit einigen Rückblenden. Es begegnen sich Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund, und es ereignen sich viele Dinge. Es gibt reichlich Diversity: Geflüchtete aus Nazi-Österreich, einen Inder, der anti-asiatischen Rassismus erlebt, ein Frauenpaar und einen schwulen jungen Mann, junge und alte Menschen, Menschen verschiedener Schichtzugehörigkeit. Mehrmals kommt das Ne*-Wort und einmal das Ni*-Wort vor, einem sich rassistisch äußernden Mann in den Mund gelegt, in einem klar rassismuskritischen Kontext. 

Eine beeindruckende Erzählung.

Drei taube Tanten, Etwas laute Nacht (Sammelband 1979)

Zwei sehr unterschiedliche Erzählungen in einem Sammelband. 

Noella

Noella, eine Witwe Anfang 30, ist finanziell unabhängig und zieht auf eine kleine Insel im Ärmelkanal, wo sie zusammen mit einem Gärtner-Ehepaar lebt. Die Zeitgeschichte (zwei Weltkriege) zieht nur von ferne an ihr vorüber, sie sucht nach einem harmonischen Leben in der Natur und im Wechsel der Jahreszeiten. 

Elisabeth Castonier schreibt: „Noella, mein bestes Buch“ (Brief 450 an Mary Tucholsky, 21.07.1969). Für meinen Geschmack ist es nicht ihr bestes Buch. Es ist wieder eine Erzählung, wieder mit linearer Erzählweise, wieder gibt es ein Gedankenexperiment, wie bei „Angèle Dufour“, diesmal: Was wäre, wenn jemand zurückgezogen lebt – kann sie vom Weltgeschehen unberührt bleiben? Antwort: Nicht ganz, und nicht ohne Verluste im Kontakt mit anderen Menschen. Das Gedankenexperiment finde ich interessant. Aber für meinen Geschmack bleibt Noella als Figur etwas flach, ebenso die angedeutete Liebesgeschichte.

Im Einleitungstext zur Taschenbuchausgabe steht, dass die Figur Noella auf einer wahren Lebensgeschichte einer Frau beruht, über die Elisabeth Castonier eine kurze Zeitungsnotiz gelesen hatte. 

Das Gesicht am Fenster (1976 posthum erschienen)

Ein historischer Roman über Louise d’Esparbès (Louise de Polastron), eine Hofdame der französischen Königin Marie Antoinette. Sie ist die Mätresse des Ultraroyalisten und späteren Königs Karl X. Der Roman schildert aus der Perspektive dieser Hofdame, wie die Französische Revolution ihren Rokoko-Alltag abrupt beendet, wie sie zehn Jahre im Exil lebt und immer wieder überstürzt den Ort wechseln muss. 

Interessant finde ich die Schilderungen des Zeitgeschehens und das Thema Exil als Prozess: Die Ahnungen vorher, die plötzlich nötige Abreise, die erste Zeit mit Hoffnungen, es möge bald vorbei sein, und das allmähliche Einfügen in das neue schwierigere Leben. Die zarte Heldin und ihre Liebesgeschichte dagegen finde ich seicht und süßlich geraten (ähnlich wie Noella), und die Schilderung der Exiljahre liest sich etwas zäh. Am Ende gibt es eine katholische Wendung und ein Lob auf das englische Landleben.

Die Literaturwissenschaftlerin Deborah Vietor-Engländer betont: „Es ging keineswegs um ihr persönliches Schicksal, denn sie [EC – Anm.] war keine Exilantin um der Liebe willen.“ Ich halte das für ein Missverständnis. Die Liebesgeschichte der Louise dient als Handlungsrahmen, der erlaubt, Elisabeth Castoniers Exil-Erfahrungen und Gedanken über das Exil einzubringen, und zwar abstrahiert von ihrem eigenen Schicksal. 

Elisabeth Castonier bemühte sich 1959 vergeblich, dieses Buch bei einem Verlag zu veröffentlichen. 

Die Begründungen für diese Absagen sind nicht nur kindisch, sondern deprimierend: Zu historisch, nicht ‚spannend´ genug!! Oder noch besser: Leider zu gut geschrieben, um einen Vorabdruck in einer der großen Illus zu erreichen.

Brief 55 an Mary Tucholsky, 23.10.1959 

Elisabeth Castonier entschied dann, dass das Buch erst nach ihrem Tode erscheinen soll. 

Das vergessene Haus / Das vergessene Cottage (1959)

Die Autorin nennt es eine „Krimi-Parodie“. Ich nenne es eine kitschige Groschenheftgeschichte. In der ersten Hälfte enthält es aber ganz schöne atmosphärische Schilderungen von England auf dem Land. Meiner Ansicht nach mit Abstand ihr schwächstes Buch. 

Exil im Nebelland. Elisabeth Castoniers Briefe an Mary Tucholsky. Eine Chronik. Hrsg. von Deborah Vietor-Engländer in der Reihe „Exil Dokumente verboten verbrannt vergessen“. 

Die Briefe an Mary Tucholsky umfassen die Zeitspanne 1950 bis 1975. In den Briefen berichtet Elisabeth Castonier von

  • ihrem Leben in England mit Jane auf der Froyle Mill Farm und später im alten Cottage, 
  • Besuchen in München und Rottach am Tegernsee, wo Mary Tucholsky und Verwandte von Elisabeth Castonier leben, 
  • ihrer schriftstellerischen Arbeit, 
  • ihren Krankheiten und ihrem Lebensmut, 
  • Schwierigkeiten mit Verlegern, 
  • aktueller Politik – Elisabeth Castonier kritisiert die Sowjetunion und die DDR als Diktaturen, einen Pazifismus, der ein Land nicht vor Überfällen anderer Länder schützt, sie ordnet ihre eigene Position als sozialdemokratisch ein und lobt Willy Brandt u. a. m. 

Der Ton wechselt zwischen sachlich und neckend-frotzelnd. Gerne streut Castonier bairische Wörter ein. 

Dieses Buch ist interessant für hartgesottene Fans der Autorin und für Forschende. Für alle anderen ist es vermutlich zu langatmig. Interessant ist auch das Nachwort von Vietor-Engländer. Einen großen Dank an die Herausgeberin, dass sie diese Briefe zugänglich gemacht hat. Das Buch ist „on demand“ noch erhältlich.[3]

In den Büchern von Elisabeth Castonier …

… habe ich viele Themen und Gedanken gefunden, die noch heute aktuell sind. 

Zu den Briefen von Elisabeth Castonier an Mary Tucholsky:

Vietor-Engländer, Deborah (2010): Nachwort. In: Exil im Nebelland. Elisabeth Castoniers Briefe an Mary Tucholsky. Eine Chronik. Exil Dokumente verboten verbrannt vergessen. Peter Lang.

Mehr Literaturhinweise stehen im anderen Teil dieser Mini-Serie.

Elisabeth Castonier im Blog der Münchner Stadtbibliothek – Beiträge zu #FemaleHeritage:


[1] In einem Absatz kommt ein antiziganistisches Klischee vor, verbunden mit dem Z*-Wort. Es ist eine Zuschreibung einer positiven Eigenschaft, bleibt aber dennoch ein Klischee. Schade und für die Geschichte unnötig. Elisabeth Castonier meint es wohl nicht abwertend oder gar rassistisch, hatte damals aber nicht das heutige rassismuskritische Wissen zur Verfügung. Sie schreibt an anderen Stellen interessiert und respektvoll über englische Roma (z. B. in Unwahrscheinliche Wahrheiten, Kap. „Der Treck der englischen Romanis“).

[2] In Deutschland wurde es bis vor Kurzem nicht als Vergewaltigung verfolgt, wenn eine Frau den Sex mit einem Mann nicht wollte und dies auch zum Ausdruck gebracht hat, sich aber nicht körperlich gewehrt hat. Nachdem eine Frau 2012 zwei Männer wegen Vergewaltigung angezeigt hatte, wurde sie wegen falscher Verdächtigung bestraft, denn das Geschehene zählte aufgrund der Gesetzeslage nicht als Vergewaltigung. Daraufhin kam es zu Protesten und das Gesetz wurde geändert. Seit 2016 gilt: Nein heißt nein. Es bleibt aber ein Graubereich, wenn die Kommunikation unklar oder widersprüchlich ist. Genau um diesen Graubereich geht es in der Erzählung von Elisabeth Castonier.

[3] An einigen Stellen kritisiert Elisabeth Castonier die britische Entwicklungspolitik gegenüber einigen afrikanischen Ländern, die von reichen Potentaten regiert wurden, während die Bevölkerung arm blieb. Sie verwendet an diesen Stellen in Bezug auf diese Potentaten das N*-Wort mit abfälligem Unterton. Aus heutiger Sicht liest sich das rassistisch, aber aus dem ganzen Werk und Kontext ist eindeutig, dass Elisabeth Castonier keine Rassistin ist, sondern im Gegenteil Rassismus kritisiert.

Autor*innen-Info

Profilbild Doris Nithammer

Dies ist ein Gastbeitrag von Doris Nithammer

Doris Nithammer, Berlin und München, liest gern und viel, soweit sie Zeit dafür hat, Alter: Mitte 50. „Das erste Buch von Elisabeth Castonier, das ich gelesen habe, war Stürmisch bis heiter. Es stammte aus einem Schwabinger Tauschregal. Die anderen Bücher habe ich in Internet-Antiquariaten gefunden. Für mich war es wie eine Schatzsuche, bei der immer neue erstaunliche Dinge zutage kamen. Es war mein Corona-Hobby im Winter 2021/2022.“

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