Was hat Anna Pappritz satirische Schrift „Herrenmoral“ mit Prostitution und Missverständnissen in der Boheme zu tun? Angebliche sexuelle Befreiung traf auf Frauenfeindlichkeit und Männerbundfantasien, wirtschaftliche Nöte zwangen Frauen oftmals in die Prostitution. Diese wurde aus Männersicht reglementiert. Dagegen gingen die Abolitionistinnen an – ein Beitrag von Dr. Kerstin Wolff vom Archiv der deutschen Frauenbewegung zur Ausstellung #FrauenDerBoheme.
Wenn wir an die (Münchner) Boheme der Zeit ab 1900 denken, kommen uns sofort Begriffe wie Unkonventionalität, Befreiung oder Aufbegehren gegen gesellschaftliche Vorstellungen in den Sinn. Hier scheinen Menschen zu sein, die sich von einengenden Vorstellungen befreien, sich selbst und durchaus auch ihre Sexualität neu definieren. Diese Idee fasziniert und rückt die Protagonist:innen dieser Bewegung näher an unsere Vorstellungen einer freien Lebensgestaltung heran.
Dabei übersehen wir leicht, dass auch diese Protagonist:innen Kinder ihrer Zeit sind, die sich nicht von all ihren gesellschaftlichen Prägungen lösen können. Dies zeigt sich vor allem in Bezug auf die Geschlechterrollen. Obwohl eine Veränderung, eine Reformierung des Geschlechterverhältnisses um 1900 in aller Munde war, blühten Frauenfeindlichkeit und Männerbundfantasien auch in den Reihen der männlichen Boheme. Man denke an den George-Kreis, zu dem mit Sabine Lepsius, als Malerin, die George porträtiert hatte, nur eine Frau gehörte, oder an die frauenfeindlichen Schriften von Hans Blüher[1].
Dies hatte lebensgeschichtliche Auswirkungen auf die weiblichen Mitglieder der Boheme, die auf der einen Seite an einem neuem Geschlechterverhältnis durchaus mitbauten, auf der anderen Seite aber mit den Folgen einer neuen sexuellen Freiheit häufig genug alleine blieben. Man denke an die unzähligen Kinder von Otto Gross, die alle von den dann verlassenen Frauen alleine aufgezogen werden mussten. Die neue sexuelle Libertinage hatte also andere Auswirkungen für Frauen als für Männer, vor allem in Zeiten von unsicheren Verhütungsmitteln.
Prostitution als Hetärentum in der Boheme – eine Fehlinterpretation
Dass sexuelle Freiheiten für Männer und Frauen unterschiedliche Konsequenzen haben können, gilt auch in Bezug auf die Prostitution, die in der Boheme gelegentlich als frei gewähltes Hetärentum aufgewertet wurde. Allerdings – so meine These – war dies auch nur wieder der männliche Blick auf eine angebliche sexuelle Befreiung.
Frauen, die als Prostituierte ihren schmalen Lebensunterhalt verdienten, sprachen anders über Prostitution als die nachfragenden Männer. Dies sieht man sogar an der Bohemienne Franziska zu Reventlow. Sie gilt als Musterbeispiel einer freien, auch sexuell selbstbestimmten Frau um 1900. Es ist bekannt, dass sie sehr selbstbewusst der Prostitution nachging. Vergessen wird aber häufig, dass sie dies nicht etwa tat, weil sie diese Art der sexuellen Betätigung für sich gewählt hatte, sondern weil sie keine andere Möglichkeit sah, finanziell über die Runden zu kommen
Ich bin wieder einmal so weit, dass ich bei dem Wort Wurst Herzklopfen kriege.[2]
Aus ihren publizierten Tagebüchern kann man herauslesen, dass sie diese Art der finanziellen Überlebensarbeit anstrengend und gelegentlich auch entwürdigend fand. Es blieb nicht mehr viel von dem – auch von zu Reventlow selber – viel besungenen Hetärentum; vor allem nicht mehr als Alleinerziehende nach der Geburt ihres Sohnes.
Dass dies so war, hatte entscheidend mit der juristischen, aber auch gesellschaftlich akzeptierten Form der Prostitution zu tun, die auch von der Boheme nicht infrage gestellt wurde. Die eingeführte Reglementierung der Prostitution war ein Verfahren, welches die Prostituierten unter Kontrolle stellte, die Freier hingegen nicht behelligte. Konkret bedeutete Reglementierung, dass Prostituierte
- sich unter Polizeiaufsicht stellen mussten,
- engmaschig medizinisch (zwangs)untersucht, teilweise in Bordellen kaserniert und bei Verdachtsfällen von Krankheiten sofort isoliert wurden.
Frauen in der Prostitution wurden somit partiell ihre Menschenrechte abgesprochen. Damit zementierte diese Praxis das bürgerliche Verständnis, nach dem der Mann das Ausleben seiner Sexualität zur Gesunderhaltung benötige und es daher darauf ankäme, diesem „gesunde“ Frauenkörper zur Verfügung zu stellen. Denn es stand einzig und alleine der Gesundheitsschutz bei der Reglementierung im Vordergrund.
Gegen diese gesellschaftliche Praxis machte die bürgerliche Frauenbewegung ab 1900 mobil. Die sogenannten Abolitionistinnen (to abolish = abschaffen) stellten die frauenfeindlichen Auswirkungen der Reglementierung in den Vordergrund. Sie versuchten, langfristig eine vollständige Gleichberechtigung der Geschlechter zu erreichen. Denn für sie war klar, dass Prostitution nur da aufleben konnte, wo Frauen nicht die gleichen Rechte hatten wie Männer. Eine direkte Bestrafung der Prostitution lehnten sie ab, da dies nur die Frauen treffen würde. Stattdessen müsse es darum gehen – so gefordert auf dem Londoner abolitionistischen Kongress von 1894[3] –, der Frau in allen Bereichen des Lebens zur Gleichberechtigung zu verhelfen.
Die Gleichstellung der Frau vor dem Sittengesetz bedingt ihre Gleichstellung in ökonomischer, pädagogischer, rechtlicher und politischer Hinsicht. Wir verwerfen jedes Geschlechtsprivilegium des Mannes.[4]
Prostitutionspolitik und Anna Pappritz – ihre Schrift „Herrenmoral“
Um deutlich zu machen, was Prostitution für Frauen (und die Gesellschaft) konkret bedeute, entwarfen Abolitionistinnen verschiedene Textsorten – aufklärerische, streitbare, kämpferische, aber durchaus auch humorvolle. Einer der humorvollsten Texte stammt von Anna Pappritz, die als frühe Prostitutionsexpertin gelten kann. Ihre 1903 veröffentlichte Schrift trug den sprechenden Titel: Herrenmoral.
Hintergrund der Schrift war der erste Kongress der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, der 1903 in Frankfurt am Main tagte. Hier trafen die unterschiedlichen Grundüberzeugungen in puncto Prostitutionspolitik erstmals in aller Härte aufeinander. Dieses Treffen war für die anwesenden Abolitionist:innen und vor allem für Anna Pappritz ein regelrechter Schock. Sie sah sich konfrontiert mit einer (Männer-)Mehrheit, die die Kasernierung der Prostitution forderte und alles daransetzte, eine „gesunde Prostitution“ als „legales Bedürfnis“ des Mannes zu gewährleisten. Gegen diese Argumente richtete Anna Pappritz ihre Schrift „Herrenmoral“. Sie nahm einen Vorschlag des Kongresses, staatliche Bordelle zu schaffen, ernst und deklinierte durch, was dies für die deutsche Gesellschaft bedeuten würde. Pappritz ließ ihrer Fantasie freien Lauf und entrollte das Bild einer vor den Toren Berlins gelegenen Bordellstadt:
Man müsste also vor den Thoren Berlins eine Bordellstadt von 20.000 Einwohnerinnen errichten. Ein solches Gemeinwesen bedarf doch natürlich eines Oberhauptes, einer Verwaltung, es muß Läden, Handwerker, Feuerwehr, Schornsteinfeger, Straßenbahnen, ein Krankenhaus usw. usw. haben. Aus der Bordellstadt wird also ein Weiberstaat (denn wegen der ‚Verführung‘ dürften selbstverständlich MÄNNER diese Posten, Betriebe und Berufe nicht ausfüllen) und somit wäre ja dann auch die FRAUENFRAGE gelöst: alle Berufe, vom Bürgermeisterposten bis zum Schornsteinfeger stehen der Frau offen – in der BORDELLSTADT. Abends kommen dann die langen Extra-Züge aus Berlin an, mit dem ‚KONSUMIERENDEN PUBLIKUM‘.[5]
Im weiteren Verlauf des satirischen Textes wies Pappritz den Prostitutionsbefürwortern nach, dass diese weder an eine staatliche Rente für die Prostituierten gedacht noch darüber debattiert hätten, was mit den Kindern aus diesen Verbindungen geschehen sollte. Sie war es, die lebensweltliche Fragen mit in die Debatte einspeiste und offenlegte, welche alltagspraktischen Probleme bei der Prostitution auch gelöst werden mussten.
Die Schrift erfuhr viel Protest vonseiten derjenigen, die sich auf dem Kongress für diese „Staatsbordelle“ ausgesprochen hatten und sich nun – zu Recht – veralbert vorkamen. Der Streit um das Buch von Anna Pappritz, das in stark gestraffter Form als Vorabdruck in der „Frauen-Rundschau“ 1903 veröffentlicht wurde, wurde ebenfalls in dieser Zeitschrift ausgetragen. Prof. Dr. Max Flesch aus Frankfurt am Main und Dr. Felix Block aus Hannover waren auf dem Kongress gewesen. Sie widersprachen Anna Pappritz in der Wahrnehmung, eine Mehrheit hätte sich für Staatsbordelle ausgesprochen. Für sie war die Schrift von Pappritz eine Generalabrechnung mit allen Männern, die nicht ihrer Meinung waren. Und in der Tat ging Pappritz (ganz Kind ihrer Zeit) davon aus, dass Frauen Prostitution ablehnten und Männer diese verteidigten – eine sicher unzulängliche Verkürzung.
Was diese Schrift aber aufzeigte, war die Tatsache, dass über Prostitution um 1900 nicht mehr nur Männer sprachen – weibliche Stimmen hatten begonnen sich einzumischen. Im Laufe dieses Gespräches wurde mehr als deutlich, dass Prostitution ein Feld war (und meiner Einschätzung nach bis heute ist), in dem ein klar patriarchales Geschlechterverhältnis fröhliche Urständ feierte. Ein Umstand, der auch von der Boheme nicht klar genug gesehen wurde.
Autorin: Dr. Kerstin Wolff
Archiv der deutschen Frauenbewegung – AddF
Gottschalkstraße 57
34127 Kassel
info(at)addf-kassel.de
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[1] Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934). Böhlau, Köln u. a. 2008.
[2] Rolf Löchel: Hetärenideologie und Prostitution. Irene Weiser und Jürgen Gutsch legen die erste verlässliche Edition von Franziska zu Reventlows Tagebüchern vor https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10007
[3] Kerstin Wolff: „Es gibt nur eine Moral!“ – Die bürgerliche Frauenbewegung und ihre Debatten um Prostitution (1880 bis 1933) https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/es-gibt-nur-eine-moral-die-buergerliche-frauenbewegung-und-ihre-debatten-um-prostitution
[4] Anna Pappritz: Die positiven Ziele der Föderation, in: Die Frauenbewegung, 7, 1901, H. 5, S. 34.
[5] Anna Pappritz: Herrenmoral, Leipzig 1903 [5. Auflage].
* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.