Pierre Jarawan über Schreiben als Handwerk, den Libanon und die Kunst des Geschichtenerzählens | #AtelierMonaco-Szene

Pierre Jarawan. Nahaufnahme

Der Autor Pierre Jarawan spricht über das Schreiben als Handwerk, Kreativität auf Kommando und seine Libanon-Trilogie. Er erzählt, wie er sich vom Poetry Slammer zum Romanautor entwickelte – und warum er überzeugt ist, dass man das Schreiben lernen kann. Das Interview ist die zwölfte Folge der #AtelierMonaco-Szene der Monacensia.*

Pierre Jarawan ist Autor und freier Fotograf. Er wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, Jordanien, geboren und kam im Alter von drei Jahren nach Deutschland. Er studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Stuttgart sowie Film-, Theater- und Fernsehkritik an der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) München. Pierre Jarawans Romane «Am Ende bleiben die Zedern» (2016) und «Ein Lied für die Vermissten» (2020) wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Sein jüngster Roman «Frau im Mond» ist im April 2025 im Berlin Verlag erschienen.

Vom Poetry Slam zum Romanautor: Pierre Jarawan über Kreativität, Schreiben und seine Libanon-Trilogie

Du hast mich in dein Schreibbüro eingeladen, was mich direkt zur ersten Frage bringt: Gelingt es dir, dein Schreiben zeitlich und örtlich auf diesen Ort einzugrenzen?

Ja, aber das ist auch neu für mich. Vor der Geburt meiner Kinder habe ich zu Hause geschrieben. Morgens hierherzukommen, bis nachmittags zu arbeiten und dann wieder heimzugehen, fand ich am Anfang wahnsinnig schwierig.

Inwiefern?

Die Ideen fürs Schreiben kommen mir nicht unbedingt am Schreibtisch, sondern überfallen mich einfach, im Bus oder an der Supermarktkasse. Ich dachte immer, ich könne nicht auf Kommando nachdenken. Für meine ersten beiden Bücher habe ich eine wilde Form von Kreativität gebraucht. Deshalb war ich überrascht, dass es bei dem dritten Buch auch anders funktioniert hat. Kreativität lässt sich offenbar auch erzwingen.

Gibt es etwas, das dir dabei hilft, kreativ zu werden?

So viel Ruhe wie möglich. Und es hilft mir, bereits Geschriebenes zu überarbeiten und daran anzuknüpfen. Inzwischen ist es völlig okay für mich, auch mal schlecht zu schreiben und etwas zu löschen. Es kann hilfreich sein, etwas zu verwerfen, denn so komme ich der richtigen Lösung näher.

Deine Romane haben alle ein Literaturverzeichnis. Wie laufen Recherche und Schreiben bei dir zusammen?

Am Anfang steht die Recherche, da mir diese die Sicherheit gibt, den Stoff so weit im Griff zu haben, dass ich anfangen kann. Aber auch während des Schreibprozesses stoße ich immer wieder auf Dinge, über die ich mehr wissen will. Beim aktuellen Roman «Frau im Mond» war ich schon ziemlich weit, als ich erkannt habe: Ich kann nicht über das Armenische schreiben, ohne vom Teppichknüpfen zu erzählen. Solche Abzweigungen können eine mehrwöchige Recherche zur Folge haben.

Pierre Jarawan sitzt an seinem Schreibtisch im Schreibbüro.
Pierre Jarawan in seinem Schreibbüro, April 2025. © Christina Madenach

Libanon als literarischer Schauplatz: Warum Pierre Jarawan immer wieder zurückkehrt

In jedem deiner drei Romane spielt der Libanon eine zentrale Rolle. Trotz deiner biografischen Verbindung zum Libanon müsstest du nicht über ihn schreiben. Warum hast du dich trotzdem dazu entschieden?

Das erste Buch war eine persönliche Form der Auseinandersetzung mit dem Land. Auch wenn es nicht autobiografisch ist, ähnelt die Entwicklung des Protagonisten meinem Werdegang: den Libanon als Kind zu romantisieren und dann zu erkennen, dass die Wirklichkeit der Überprüfung nicht standhält. Inzwischen ist der Libanon für mich vor allem ein Ort, an dem es wahnsinnig viele spannende, unerzählte Geschichten gibt.

Der Libanon hat dich also schon immer beschäftigt?

Genau. Bei Schreibwerkstätten versuche ich auch immer zu vermitteln, dass das der wichtigste Aspekt ist: Schreibt nicht, weil ihr damit rechnet, dass irgendetwas besonders gut funktioniert, sondern findet euer Thema. Nur dann werdet ihr genug Motivation haben, auch durch Phasen zu gehen, in denen ihr das Gefühl habt, überhaupt nicht weiterzukommen. Und nur so könnt ihr den Mut aufbringen, notfalls 50 oder 100 Seiten zu löschen und neu anzufangen. Das macht man nur, wenn man für ein Thema brennt.

Wusstest du schon beim ersten Buch, dass noch weitere über den Libanon folgen würden?

Ich habe mir immer drei Bücher als Projekt gedacht, also insgesamt 100 Jahre libanesische Geschichte. Auch wenn die Bücher völlig eigenständig sind, kann man sie als Libanon-Trilogie verstehen. Für das nächste Buch könnte ich mir aber vorstellen, etwas ganz anderes zu machen.

Pierre Jarawan steht, Hände in der Tasche.
Pierre Jarawan © Maximilian Heinrich

In deinen Romanen spielt das Motiv des Geschichtenerzählens eine wichtige Rolle. Was bedeutet das Geschichtenerzählen für dich?

Erzählen ist etwas Menschliches und eine Notwendigkeit. Es hat trotzdem etwas Zweischneidiges. So ist in meinem ersten Buch «Am Ende bleiben die Zedern» der Vater zwar ein großartiger Geschichtenerzähler, aber er verschleiert damit auch Dinge. Diese Ambivalenz des Erzählens findet man ebenso im Hinblick auf den Libanon: Innerhalb der 17 verschiedenen Gruppierungen dort kursieren jeweils eigene Erzählungen über Schuld oder Unschuld, sodass es automatisch auch Zuweisungen über die Schuld der anderen gibt. Das macht es schwierig, eine gemeinsame Geschichte zu finden.

Pierre Jarawan: «Am Ende bleiben die Zedern», Berlin Verlag 2016

Ein Sprichwort sagt: Wer glaubt, er habe den Libanon verstanden, dem hat man ihn nicht richtig erklärt. Ich denke, das gilt genauso für meinen Vater. Wie das Land bleibt auch er ein Mysterium für jeden, der ihn je liebte. Ein Lebenskünstler. Ein Opportunist. Ein Geschichtenerzähler. Einer, der den Libanon verkörperte wie niemand, den ich sonst kannte: Feierlust und Poesie waren ihm ebenso eigen wie Trübsinn und das Augenverschließen vor der Realität. Ist er ein schlechter Mensch wegen der Dinge, die er tat? Oder sind es nicht gerade seine Taten, die ihn so menschlich machen, weil sie zeigen, dass er stets seinem Herzen folgte? Hat er gefunden, was er suchte? Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gefragt.

[…]

Die Zeder, an deren Stamm ich lehne, ist noch jung, viel kleiner als die anderen. Doch sie ist alt genug, um gesehen zu haben, wie sich das Land veränderte. Und ganz sicher wird sie noch viele weitere Wandel erleben. Zum Guten, wovon mein Bruder überzeugt ist? Ich weiß es nicht. Vielleicht muss das so sein, dass wir irgendwann verschwinden. Sodass zukünftige Generationen über uns schreiben können, weil wir kein Geschichtsbuch hinterlassen haben, das von uns berichtet. Dass sie gezwungen sind, unseren Spuren zu folgen, sich zu fragen, wer wir waren, was wir einander angetan haben und warum. Aber bis dahin werden noch viele Wellen ans Ufer schlagen. Vergehen werden Äonen von Zeit. Und am Ende? Am Ende bleiben die Zedern. Sie werden dicht beieinanderstehen und auf den Libanon herabblicken. Und vielleicht, wenn der Wind günstig steht und vom Meer heraufweht, wird man es hören. Man wird hören, wie sie einander zuflüstern, dass ich einst in ihrem Schatten saß. Und wie ich hier entlangging, um Vater zu suchen.

In deinem aktuellen Roman «Frau im Mond» thematisierst du auch an mehreren Stellen das Erzählen.

Genau, denn die Erzählerin macht Dinge, die eigentlich nicht gehen. Beispielsweise kannst du mit einer Ich-Erzählerin keine hundert Jahre verhandeln. Aber ich habe festgestellt, dass du die üblichen erzählerischen Verfahren aufbrechen kannst, solang du das thematisierst. Eigentlich wäre die Protagonistin als Dokumentarfilmerin der Wahrheit auf eine Art verpflichtet. Stattdessen ist sie hochgradig unzuverlässig und macht sich einen Spaß daraus. Das hat mich an der Figur gereizt.

Wie bist du zum Geschichtenerzählen gekommen? In «Frau im Mond» fragt der Großvater die Protagonistin nach dem für sie auslösenden Moment, Dokumentarfilmerin zu werden. Gab es für dich einen bestimmten Moment, in dem du dich entschieden hast zu schreiben?

Bei mir kam das eher aus einer Phase als aus einem Moment. Das war die Phase, in der ich vorgelesen bekommen habe. Durch das Vorlesen wirst du für Geschichten sozialisiert. Und wenn du sie lieben lernst, wirst du fast automatisch zur Leserin oder zum Leser. Von da ist es nicht mehr weit zum Wunsch, selbst Geschichten schreiben zu können.

Pierre Jarawan: «Frau im Mond», Berlin Verlag 2025

Etwas kann so oft und eindrücklich erzählt werden, dass man meint, sich selbst an die Ereignisse zu erinnern. Wir bekamen die Geschichten bereits im Kindesalter zu hören, und in den folgenden Jahren wurden sie bei verschiedenen Anlässen wieder und wieder erzählt. Anfangs noch einander ins Wort fallend und mit Abzweigungen, die sich als Einbahnstraßen entpuppen konnten, irrelevant für den Verlauf der Handlung. Später, als wir älter waren, mit wirksam gesetzten Pausen und ausgefeilten Erzählbögen, die sich wie Fäden eines Wandteppichs zu einem Bild verflochten. Ursprünglich waren es zwei getrennte Geschichten. Doch mit der Zeit verbanden sie sich zu einer Erzählung, die bei Familienfesten unter Girlanden und im Rauch der Grillfeuer weitergegeben wurde.

Poetry Slam als Sprungbrett – vom Bühnentext zum Roman

Du hast mit Gedichten und Kurzgeschichten angefangen und warst als Poetry Slammer sehr aktiv.

In den Poetry Slam bin ich reingerutscht und habe das ungefähr zehn Jahre lang betrieben. An sich ist das eine gute Schule – allerdings nicht unbedingt für das Schreiben von Romanen. Nach so einer langen Zeit war es schwierig, von den für den Poetry Slam typischen sechs Minuten wieder wegzukommen. Aber ich habe viel für meine Auftritte und die Interaktion mit dem Publikum bei Lesungen gelernt.

Und wie kam es zu deiner Entscheidung, Romane zu schreiben?

Ich wollte eigentlich nie Slammer und immer Romanautor werden. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich als Slammer alles auf der Bühne gemacht und gesagt hatte. Als ich dann 2015 beim Großen Tag der jungen Münchner Literatur einen Kurztext vorgetragen habe, saß mein heutiger Agent Markus Michalek im Publikum und hat mich angesprochen. Das war für mich ein Anstoß und eine Chance. Im gleichen Jahr habe ich das Münchner Literaturstipendium erhalten, das mich darin bestätigte, auf dem richtigen Weg zu sein.

Und in der Poetry Slam Szene bist du weiterhin als Moderator aktiv?

Genau. Ich moderiere zusammen mit Ko Bylanzky den Isar Slam, der einmal im Monat in der Muffathalle stattfindet. Pro Veranstaltung laden wir sechs Leute ein, haben aber immer auch drei offene Plätze für jeden, der Lust hat.

Neben dem Poetry Slam hast du dich in der Vergangenheit noch in einer ganz anderen Richtung mit dem Schreiben beschäftigt und an der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF) studiert. Hat sich das auch auf dein Schreiben ausgewirkt?

Das glaube ich nicht, weil ich dort Film-, Theater- und Fernsehkritik studiert habe. Aber die Vernetzung mit den Drehbuch- und Regieleuten und die Beschäftigung mit der Filmgeschichte haben mir bestimmt geholfen.

Schreiben lernen: Handwerk, Talent und kreative Disziplin

Auch wenn du selbst nicht kreatives Schreiben studiert hast, leitest du jetzt regelmäßig Schreibwerkstätten – an Schulen oder in Form der Abendwerkstatt im Münchner Literaturhaus. Kann man Schreiben lernen?

Ich glaube schon. Kreativität ist natürlich wichtig, ebenso ein gewisses Talent, aber ein beachtlicher Teil des Schreibens ist Handwerk. Also: Wie schreibe ich atmosphärisch? Was braucht eine interessante Figur? Wie baue ich meine Geschichte? Und dieses Handwerk kann man erlernen. Die Kunst ist es dann, es abzurufen und so mit Kreativität aufzufüllen, dass das Handwerk als solches nicht mehr erkennbar ist.

Pierre Jarawan liest aus seinem Buch Frau im Mond im Literaturhaus München vor. Über die Kunst des Geschichtenerzählens.
Pierre Jarawan: Lesung im Literaturhaus, April 2025. © privat

Und wie hast du dieses Handwerk erlernt?

Am meisten lernst du, wenn du aufmerksam liest. Und du musst dich dabei fragen, warum etwas wie gemacht ist. So ein Leser war ich, mich hat immer interessiert, wie Texte gemacht sind. Außerdem habe ich in meinem Studium der Germanistik und Anglistik gelernt, analytisch an Texte heranzugehen. Auch das hat mir fürs eigene Schreiben geholfen.

Du schreibst nicht nur, sondern betätigst dich auch als Fotograf. Wie bist du dazu gekommen?

Als totaler Autodidakt liebe ich es, mir Dinge selbst beizubringen. So war es auch mit dem Fotografieren. Ich habe 2015 damit angefangen, als ich mysteriöse Knieschmerzen bekam und versuchte, mit Bewegung dagegen anzukämpfen, ohne eine Schonhaltung einzunehmen. Um nicht die ganze Zeit mit dem Kopf am Knie zu sein, habe ich mir eine Kamera besorgt. Am Anfang habe ich viele richtig schlechte Fotos gemacht. Wie beim Schreiben wollte ich aber wissen, warum etwas funktioniert oder eben nicht. Deshalb bin ich dabei geblieben, und es ist zu einer Leidenschaft geworden.

Demnach kann es auch noch passieren, dass du irgendwann mal einen Film machst?

Ja, das würde mich tatsächlich interessieren. Oder vielleicht sogar wirklich mal ein Drehbuch …

Als Autor und Leiter von Werkstätten bist du Teil der Münchner Literaturszene. Während deiner Zeit als Poetry Slammer hast du sie auch als Veranstalter der Lesebühne «Stadt, Land, Fluss» geprägt, die du gemeinsam mit Alex Burkhard zwischen 2012 und 2019 organisiert hast. Wie wichtig ist dir der Austausch und die Vernetzung mit anderen Schreibenden?

Was mein eigenes Schreiben angeht, bin ich nicht der Typ, der gern darüber spricht. Das mache ich hauptsächlich mit meinem Lektor oder meinem Agenten. Für mich als Person ist es aber superwichtig, andere Schreibende zu kennen und mit ihnen im Austausch zu sein. Ich finde es sehr wertvoll, mich mit jemandem wie Sandra Hoffmann oder Anika Landsteiner oder Dana von Suffrin zu treffen, auch wenn es im Gespräch nicht unbedingt um das Schreiben gehen muss. Und ich finde es schön, dass es mit der Monacensia oder dem Literaturhaus Orte gibt, an denen man sich begegnen kann.

Portrait von Pierre Jarawan
Pierre Jarawan. © Maximilian Heinrich

*AtelierMonaco-Szene

Die Reihe «Atelier Monaco-Szene» erscheint alle zwei Monate im Blog der Münchner Stadtbibliothek. In der ersten Staffel spricht Katrin Diehl (1–6), in der zweiten Christina Madenach (ab Folge 7) mit Autor*innen über ihre literarischen Tätigkeiten, Netzwerke, eigene Verlage und literarische Lesereihen in München – es entsteht eine Kartografie der «Atelier Monaco-Szene» in der Stadt.

Autor*innen-Info

Profilbild Christina Madenach

Christina Madenach

Christina Madenach, 1988 geboren in Starnberg, ist Autorin und Kulturmanagerin. Sie studierte Neuere Deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der Ludwig-Maximilians-Universität München und arbeitete nach ihrem Magisterabschluss an Kulturinstitutionen in Rom, Saigon, Berlin und aktuell in Bayern. Sie kuratiert und moderiert die Lesereihe LIX – Literatur im HochX und leitet die Münchner Romanwerkstatt. Foto © Jean-Marc Turmes

Beitrag teilen

Facebook
WhatsApp
X
Pinterest
LinkedIn
Reddit
Email
Print
Facebook

Empfohlene Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

Weitere Beiträge

Newsletter

Mit unserem monatlichen Newsletter seid ihr stets über die aktuellen Veranstaltungen, Themen und Artikel aus dem MON_Mag der Monacensia auf dem Laufenden.

Wir freuen uns auf euch!



Anmelden