Philipp Gufler beschäftigt sich seit 2013 intensiv mit den 1980er Jahren – mit Fokus auf München. Was fasziniert den 1989 in Augsburg geborenen Künstler an dieser Zeit – und an einer Künstlerin, die bis vor Kurzem weitgehend vergessen war? Für unsere Artikel-Serie* zur Ausstellung #PopPunkPolitik spricht im Interview Philipp Gufler über sein Verständnis von Punk, über Peter Gauweilers sogenannten Maßnahmenkatalog und seine künstlerische Annäherung an Rabe Perplexum.
Interview mit Philipp Gufler über die 1980er Jahre und Rabe Perplexum
Herr Gufler, Sie haben München in den 1980ern knapp verpasst. Hätten Sie es gerne erlebt?
Ein Kurator hat mich mal als den jüngsten Künstler aus den 1980ern bezeichnet, den er kennt. Ich glaube aber, dass sich viele Künstler*innen speziell für die Zeit um ihr Geburtsdatum interessieren. Weil man diese Epoche nicht direkt fassen kann. Gefühlt hat man sie knapp erlebt, ist bis heute mit damaligen Veränderungen konfrontiert – ohne sie selbst beeinflusst zu haben. Vielleicht ist genau dieses Ohnmachtsgefühl die Motivation für viele meiner Arbeiten über und zu den 1980ern. Wichtig ist mir dabei, dass es sich nie in einer nostalgischen Faszination erschöpft.
Sondern?
Dass ich versuche, mich auf politische und soziale Zusammenhänge zu fokussieren, zum Beispiel auf die Ausdehnung des Sperrbezirks im München der 1980er und die damit verbundene Gentrifizierung des Glockenbachs, wodurch viel schwule und queere Subkultur verschwunden ist. So etwas beeinflusst uns bis heute.
Und was verbinden Sie mit Punk?
Mit der Punkbewegung konnte ich mich nie identifizieren, vielleicht weil ihr in meiner Jugendzeit schon etwas sehr Nostalgisches anhaftete. Dass es in den 1980ern auch um Politisches ging, kann man in #PopPunkPolitik sehr gut sehen. Für mich sind das die spannendsten Aspekte der Ausstellung. Mit dem Begriff Punk habe ich hingegen wenig zu tun – eher mit der DIY-Kultur und einer gewissen Selbstorganisation, die im Kunststudium und danach in meinem Leben als Künstler immer sehr wichtig war.
Wie steht es mit der Künstlerin Rabe Perplexum: Ist sie Punk?
Dieses Label wird ihr nicht gerecht. Zwar hat sie Stilelemente eingesetzt, die wir heute als Punk bezeichnen, aber es war nie nur Style. Zentral ist für mich der große künstlerische Mut, den sie bewiesen hat; und dass sie keinerlei Berührungsängste hatte. Sie hat im öffentlichen Raum oder in der schwulen Subkultur Performances zu brisanten politischen und sozialen Themen gemacht – und diese teils mit bayerischer Folklore verbunden. Das finde ich spannend.
Als Rabe Perplexum im Juli 1996 mit 39 Jahren starb, waren Sie sieben Jahre alt. Wann haben Sie erstmals von ihr gehört?
Während meines Studiums an der Münchner Kunstakademie habe ich mich mit ACT UP beschäftigt. Das Künstler*innenkollektiv reagierte in den USA und darüber hinaus bereits in den 1980ern auf die AIDS-Krise. Irgendwann stellte ich fest, dass ich mich im englischsprachigen Raum gut auskenne, aber kaum etwas über die damalige hiesige queere Geschichte weiß. 2013 bin ich dann dem Forum Queeres Archiv München beigetreten, um hier zu den Anfängen der Aids-Krise zu recherchieren, vor allem zu Peter Gauweilers „Maßnahmenkatalog zur Abwehr von Aids“. Daraus entwickelte ich 2014 die Videoinstallation und das gleichnamige Künstlerbuch „Projektion auf die Krise (Gauweilereien in München)“. Die Fehleinschätzungen von Gauweiler und der Bayerischen Staatsregierung hatten fatale Konsequenzen. Hier kommen wir auf unseren Gesprächsbeginn zurück – die Auswirkungen habe auch ich gespürt.
In welcher Form?
Die Folgen der Aids-Krise haben meine sexuelle Scham als queerer Jugendlicher und junger Mensch verstärkt. Die Reflexion, warum gleichgeschlechtlicher Sex schambesetzt ist, war also persönlich motiviert. Dann habe ich nach Künstler*innen gesucht, die die politischen und sozialen Repressionen in den 1980ern thematisiert haben. Gefunden habe ich nichts – bis ein befreundeter Künstler Rabe Perplexum erwähnte. Stephan Dillemuth ist die gleiche Generation wie sie. Er kannte sie nicht persönlich, empfahl mir aber, unbedingt ihre Arbeiten anzusehen.
Was bis vor ein paar Jahren nicht einfach war …
Das stimmt! Google lieferte für ihren Namen gerade mal fünf Treffer. Das hat mich noch neugieriger gemacht. Zumal sich inzwischen herausgestellt hatte, dass ich einige Wegbegleiter*innen von Rabe Perplexum bereits gut kannte: die Künstlerin Cosy Pièro oder den Theaterregisseur Holger Dreissig. Es gab also eine Person, die Zeitgenoss*innen als sehr wichtig für die Münchner Kunstszene beschrieben – aber ich fand nichts über sie. Das ist übrigens ein weiterer spannender Aspekt der 1980er: Es ist die Zeit, die im Internet momentan noch am unsichtbarsten ist. Im Falle von Rabe Perplexum hat sich das – auch dank der Monacensia oder meiner Initiative – mittlerweile verbessert.
In der Monacensia liegt auch Rabes Nachlass.
Da der 2014 aber noch nicht aufgearbeitet war, wurde mir der Zugang verwehrt. Dann hatte ich Glück: Ihr Witwer erhielt Ende 2014, Anfang 2015 eine Sondergenehmigung, den Nachlass zu sichten – und ich durfte als Sonderausnahme mit! Wir standen vor Kartons, überzogen mit einer Staubschicht, die seit der Rabe-Retrospektive in der Rathausgalerie 1998 wohl niemand mehr angerührt hatte. Das war wie ein Geheimnis.
Was haben Sie entdeckt?
Dass sie tatsächlich Aktionen zur Aids-Krise gemacht hat und schon damals so anders mit ihrem Geschlecht umgegangen ist. Aus meiner heutigen Perspektive ist Rabe Perplexum eine queere Künstler*in – weniger auf ihre sexuelle Orientierung bezogen als auf ihr Spiel mit Geschlechtern. Sie war so wie viel weiter als die damalige schwul-lesbische, sehr binäre Münchner Szene. Dieses Animalische, ihr Diktum „Nicht Mann, Nicht Frau, nur RABE“ war programmatisch. Auf Formularen hat sie weder Mann noch Frau angekreuzt, sondern Rabe dazugeschrieben. Das ist eine komplette Neuerfindung des eigenen Geschlechts – künstlerisch, bis hin zur eigenen Lebensführung. Hier sehe ich den Anknüpfungspunkt zu meinen anderen Arbeiten.
In der Begründung für den Ihnen zugesprochenen Bayerischen Förderpreis für Bildende Kunst 2015 hieß es: „Gufler nutzt die Formsprache der Achtzigerjahre, um eine Überlagerung und Verschmelzung zwischen dem Gestern und Heute zu erzielen.“ Beschreiben Sie uns diese Formsprache?
Ich spiele gerne mit Ästhetiken und verwende Sachen, um keine einfache Lesbarkeit zu ermöglichen. Es darf im Unklaren bleiben, ob diese Arbeit aus den 1980ern ist. Wichtiger ist die Frage, was sie fürs Hier und Jetzt bedeutet. Was könnte eine Figur wie Rabe Perplexum meiner oder einer noch jüngeren Generation vermitteln?
Als ich ihre Arbeiten in einem Vortrag zusammen mit Burcu Dogramaci an der Münchner Kunstakademie vorgestellt habe, kam das wahnsinnig gut an. Viele junge Künstler*innen können sich mit ihrer Ablehnung des binären Geschlechts identifizieren oder auch mit dem Wunsch, nicht nur in klassischen Kunstinstitutionen aufzutreten. Rabe hat einiges vorweggenommen.
Welche Rolle spielt die lokale Verortung? Ihre Videoinstallation „Becoming-Rabe“ wurde 2016 in der Galerie der Künstler in München gezeigt, aber auch in Kassel, Berlin, Amsterdam, London … Haben Sie dort andere Reaktionen als in München erlebt?
Ich glaube, in den 1980ern waren noch andere lokale Kunstkarrieren möglich. Mit der Internationalisierung und der Veränderung des Kunstmarkts hat sich das gewandelt. Münchner Zeitzeug*innen bedeutet es vielleicht noch etwas; jüngeren Menschen ist es egal, woher Rabe kommt.
Was mich mehr überrascht hat: Viele hielten Rabe für meine Erfindung – trotz ihrer Lebensdaten und Hintergrundinformationen in der Ausstellung. In der Videoinstallation suche ich die Auseinandersetzung mit ihr als Künstlerin. Das Fiktive an der Archivrecherche, die Unschärfe, interessiert mich mehr als Fakten. Ich möchte das Emotionale zugänglich machen – und die Zeit. Meine Arbeit über Rabe wäre nie eine Arbeit von ihr über sich selbst. Es geht um meine Annäherung, um eine Berührung, die fast stattfindet. „Becoming-Rabe“ ist eine freie Aneignung, soll aber keinesfalls das Original Rabe überschreiben.
Und wie reiht sich Rabe Perplexum in Ihr gesamtes künstlerisches Arbeiten ein?
2016 habe ich für den Kunstverein in Göttingen mit der Kuratorin Anja Lückenkemper Arbeiten von Rabe ausgewählt und zusammen mit meinen Arbeiten installiert. In der Videoinstallation und der Ausstellung hat sich dann ein Originalgemälde von Rabe in einer meiner Spiegelarbeiten reflektiert. Dieses Motiv der Dopplung oder Überlagerung versinnbildlicht, welchen Einfluss die Vergangenheit auf die Gegenwart hat – und auf die Zukunft.
Sie führen Ihre Auseinandersetzung mit Rabe Perplexum also fort?
Auch wenn sich meine Interessen weiterentwickeln oder ich andere Schwerpunkte setze: Diese künstlerische Recherche hört für mich nie auf. Irgendwann bin ich aber an Grenzen gestoßen: Zum einen sind ihre Videokassetten noch nicht digitalisiert, zum anderen waren die finanziellen Möglichkeiten für meine eigene künstlerische Recherche erschöpft.
Dann hatte ich wieder Glück. Seit zwei Jahren bin ich Teil einer Forschungsgruppe mit Burcu Dogramaci, die sich mit alternativen Strategien der Kunstproduktion in den 1980ern von drei Frauen beschäftigt: Tabea Blumenschein aus Berlin, Hilka Nordhausen aus Hamburg und Rabe Perplexum. Sie alle waren für die Kunstszene in ihrer Stadt wichtig und sind heute weitgehend vergessen. Als Kollektiv aus Künstler*innen und Kunstwissenschaftler*innen beschäftigen uns Fragen wie: Warum korreliert die Geschichtsvergessenheit mit dem Geschlecht und oft auch der Sexualität? Für 2022 sind Ausstellungen in den drei Städten geplant und eine kunstwissenschaftliche Publikation. Dieser Schritt ist enorm wichtig, denn bislang gibt es Zeitzeug*innengespräche, aber keine kunsthistorische Einordnung von Rabes Arbeiten.
Für mich bedeutet das: Ich werde weiterhin in der Monacensia zu Rabe Perplexum und den 1980ern forschen!
Philipp Gufler, geboren 1989, wohnt in Amsterdam und München und ist seit 2013 Mitglied des Forum Queeres Archiv München. Er studierte an der Akademie der Bildenden Künste in München und war Resident bei De Ateliers in Amsterdam, Skowhegan School of Painting and Sculpture in Maine, USA und Delfina Foundation, London. Seine Arbeiten sind ein Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen, aktuell in „Sweat“ im Haus der Kunst, München und „Actually, the Dead are Not Dead. Techniken des Werdens“ im Württembergischen Kunstverein, Stuttgart. 2020 veröffentlichte er das Künstlerbuch „Quilt #01–#30“ über seine Siebdruckserie im Hammann Von Mier Verlag, München. Ein künstlerischer Schwerpunkt liegt auf den politischen und sozialen Entwicklungen in den 1980er Jahren und deren Folgen bis heute. www.philippgufler.de
Dieser Beitrag wird gefördert im Programm:
* Die Artikel-Serie zu #PopPunkPolitik verlängert die Ausstellung in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft Themen der 1980er Jahre aus literarischer und heutiger Perspektive.
Lese- und Sehtipps zu Rabe Perplexum
Zu Rabe Perplexum entstanden für die Blogparade #femaleheritage zwei Artikel:
- Faszination Rabe perplexum: Ein Werkstattbericht (22.11.2020)
- Ein neuer Wikipedia-Artikel Rabe Perplexum
Der Beitrag ist Teil von #PopPunkPolitik Vol. 2 – unserem digitalen Programm, das wir auf der Microsite zur Ausstellung in der Übersicht spiegeln. Schaut rein!