Charlotte von Mahlsdorf erkämpfte sich Freiheiten innerhalb der von der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts auferlegten Geschlechterrollen. Dabei stand sie ganz und gar für ihre Haltung, Überzeugungen und Leidenschaften ein. Ihre Existenz passte in kein Kästchen hinein. So äußerte sie sich in ihrer Autobiografie zu einer Zeit, als der Begriff „Transgender“ gerade aufkam. Katharina Faller wählte die Briefform, um sich der Gründerin und langjährigen Leiterin des Gründerzeitmuseum in Berlin-Mahlsdorf anzunähern – ein Beitrag zu #femaleheritage!
Brief an Charlotte von Mahlsdorf
Liebe Charlotte,
wer außer dir hätte sich das getraut: Im Alter von 12 Jahren ein verschnörkeltes Tischgestell aus einem Haufen von kriegswichtigem Metall zu ziehen und den Schatz nach Hause zu bringen.
Mein Bestreben, zu bewahren, ist stärker als alles andere.,
hast du in deiner Autobiographie geschrieben. Und so war dein Drang, ein schönes Möbelstück vor der Einschmelzung für Kriegszwecke zu retten, größer als die Angst vor der darauf stehenden Strafe.
Aus deiner Sammelleidenschaft entsteht ein Museum
Schon als Kind ging es bei dir los mit dem Sammeln von Dingen aus vergangenen Zeiten, von „altem Kram“, der dich mehr interessierte als das Spielzeug deiner Altersgenoss*innen. Was andere nicht mehr haben wollten, hast du von der Müllhalde gefischt und gehortet: Lampen, Geschirr, Standuhren und Grammophone mit Trichter. Es gibt einen Witz unter Museumsmenschen, nach dem persönliche Sammelwut und professionelle Museumsarbeit Hand in Hand gehen. In deiner Kindheit und Jugend hast du den Dachboden, den Keller und schließlich auch den Stall vom Haus deines Großonkels mit deiner Sammlung gefüllt. Sie war der Grundstock für das Museum, das du später gegründet hast: Das Gründerzeitmuseum im Guthaus Berlin-Mahlsdorf, welches heute noch existiert.
Dich selbst finden und die Frau werden, die du sein wolltest
Die Gründerzeit hatte es dir angetan mit ihren reich verzierten Möbeln und gemütlich eingerichteten Zimmern. Dein Traum wäre es gewesen, ein Dienstmädchen um die Jahrhundertwende zu sein. Geboren wurdest du aber 1928 als Lothar Berfelde. Aus Lothar wurde Lottchen und schließlich Charlotte. Denn schon früh war dir klar: Du warst ein Mädchen. Als zarter „Mädchenknabe“ mit einer Liebe zu Schürzen und Blusen bist du angeeckt, weil du lieber Staub wischen wolltest als Fußball spielen oder was sonst als angemessenes Hobby für männlich sozialisierte Kinder galt.
Dein cholerischer, gewalttätiger Vater und deine Schulkameraden haben geahnt, dass du anders warst und haben es dich spüren lassen. Ein Aha-Erlebnis auf dem Weg deiner Selbstfindung hattest du im Alter von 16 Jahren, als dir in der Bibliothek deiner Tante der Band „Die Transvestiten“ des Arztes und Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld in die Hände fiel. Ab 1945 trugst du regelmäßig Frauenkleider. Denn du hast dich „vom Wesen her als Frau gefühlt“. Das hat dich nicht davon abgehalten, in den 1950er Jahren in der Berliner Schwulenszene „mitzuschwuchteln“. Aber gleichzeitig warst du „kein Transsexueller“, schreibst du in deiner Autobiographie. Der Begriff „Transgender“ war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erst zaghaft im Aufkommen. Du hast „in kein Kästchen gepasst“, wie du selbst festgestellt hast.
Dich in der Vergangenheit häuslich einrichten: Wohnen im eigenhändig gebauten Museum
„Von Mahlsdorf“ hast du dich genannt. Mahlsdorf: Das Zentrum deines Wirkens liegt da, wo Berlin an den Rändern nach Osten hin ausfasert. Dein Herzensprojekt wurde das Gutshaus dort, welches du in den 1950er Jahren eigenhändig von einer Ruine wieder aufgebaut hast. Für die Einrichtung des Hauses bist du kreuz und quer durch Berlin gefahren und hast Türklinken, Stuckrosetten, Möbel, Vasen und vieles Weitere aus Häusern gerettet, die abgerissen wurden. Dein Handwerkszeug dafür hast du als Konservatorin im Märkischen Museum gelernt – bis dein Arbeitsvertrag nicht mehr verlängert wurde, weil Kolleg*innen dich in „Frauenkleidern“ gesehen hatten und gegen dich Stimmung machten. Im Jahr 1960 eröffnet, war das Gründerzeitmuseum das einzige privat geführte Museum auf DDR-Gebiet. Du warst dort Verwalterin, Tourguide, Reinigungskraft und Bewohnerin zugleich. Das Haus war nicht nur Museum, sondern mit der historischen Einrichtung der Bar „Mulackritze“ im Keller auch Treffpunkt für die Schwulen- und Lesbenbewegung in Ostberlin und der ganzen DDR.
Eine persönliche Chronik von Berlin im 20. Jahrhundert
Deine Lebensgeschichte ist auch eine Erzählung der Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert mit manchen ihrer dunkelsten Episoden: Das jähe Ende des friedlichen dörflichen Lebens durch die Nationalsozialisten. Deine Weigerung, in die Hitlerjugend einzutreten und die folgenden Schikanen. Im Alter von 14 Jahren abends auf der Straße von einer HJ-Streife in Frauenkleidern erwischt und auf der Polizeiwache verprügelt zu werden. Die Auflösungen von jüdischen Haushalten, die du als Jugendliche durch deine Arbeit im Trödelladen hautnah erlebt hast. Die geretteten hebräischen Bücher, die verbotenerweise dort im Keller aufbewahrt wurden. Dein Jugendschwarm, der eines Tages verschwand und, wie du nach Kriegsende erfahren hast, nach Minsk deportiert wurde. Du hast dir bis an dein Lebensende vorgeworfen, ihn nicht versteckt zu haben. In den letzten Tagen der Schlacht um die Stadt beinahe als Deserteur erschossen zu werden.
Der Einfallsreichtum, der nötig war, um in den kargen Nachkriegsjahren zu überleben. Sexuelle Gewalt durch Soldaten der Roten Armee. Dein Protest gegen den Abriss der Ostberliner Schlösser, die nach der Auflösung Preußens von der DDR-Verwaltung enteignet wurden. Die Zerstörung von Gründerzeitbauten, die sozialistischen Wohnblocks weichen mussten. Deine Auflehnung gegen die Enteignung von Privatsammlungen und den Ausverkauf von Kulturgütern gegen Devisen. Die Teilung der Stadt, die dich jahrzehntelang von deinen schwulen Freunden und Lieblingskneipen in Westberlin trennte. Drangsalierungen von Ostberliner Neonazis in den 1990er Jahren, einer der Gründe für deinen Wegzug aus Berlin nach Schweden.
Genauso stark wie deine Liebe zu schönen Dingen und dein Wille, sie vor Zerstörung zu bewahren, waren deine Lebensfreude und Hartnäckigkeit. Wie du aus schwierigen Umständen das Beste gemacht hast und unbeirrt deinen Weg gegangen bist, ist beeindruckend. Ebenso berührend sind deine Solidarität und dein Mitgefühl mit Menschen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt wurden.
Meiner Liebe und meiner Zärtlichkeit werden immer all jene teilhaftig werden, die sich zu wehren haben gegen eine feindliche Umwelt, die wie ich Außenseiter sind.,
liest sich in deiner Autobiographie. Eine empathische Haltung voller Menschlichkeit, die auch heute, 18 Jahre nach deinem Tod im Jahr 2002, tief berührt.
Der Beitrag passt wunderbar zum Brief, den Birgit Donhauser an Dagmar Nick schreibt.
Quellen:
Sofern nicht anders angegeben, sind alle Zitate entnommen aus: Charlotte von Mahlsdorf, “Ich bin meine eigene Frau. Ein Leben” (1994), herausgegeben von Peter Süß.
Katharina Faller auf Instagram: @kategoesmuseum
Gründerzeit-Museum im Gutshaus Mahlsdorf
Hultschiner Damm 333
12623 Berlin
Telefon(030) 5678329
Fax(030) 56594873
www.gruenderzeitmuseum-mahlsdorf.de