Die Möhlstraße – Zentrum jüdischen Lebens im Nachkriegsmünchen

tausende Menschen feiern in der Möhlstraße die Staatsgründung Israels.

Wussten Sie, dass München nach Kriegsende das Zentrum jüdischen Lebens in Mitteleuropa war – hier vor allem die Möhlstraße und Umgebung? Die ehemalige „Hauptstadt der Bewegung“ entwickelte sich ab 1945 in erstaunlich schneller Zeit zum Sammelplatz der Sche’erit Hapletah, dem „Rest der Geretteten“. Ein Beitrag zur Dauerausstellung „Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa.“

Ein Straßenzug in Bogenhausen in unmittelbarer Nähe der heutigen Monacensia bildete damals den Mittelpunkt eines lebhaften jüdischen Lebens, das nur kurz zuvor wohl niemand für möglich gehalten hätte.

In den ersten Jahren nach Kriegsende lautete, anders als heute, die begehrteste Münchner Adresse nicht die damals weitgehend zerstörten Maximilian-, Theatiner- oder Brienner Straßen. Stattdessen war eine ruhige, von Villen gesäumte Straße, die sich hoch über dem Isarufer hinzog, der magische Anziehungspunkt für viele Münchner. Die Möhlstraße war das Zentrum des Schwarzmarkts.

Das schreibt Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG), in ihrer Autobiografie.1

Was war dieser „magische Anziehungspunkt“? Diese „begehrteste aller Münchner Adressen“, die nur wenige Minuten Fußweg von Adolf Hitlers ehemaliger Wohnung am Prinzregentenplatz entfernt lag, und die sich in den Nachkriegsjahren zum Zentrum jüdischen Lebens entwickelte?

Die Möhlstraße in Bogenhausen ist auch heute einen Spaziergang wert. Ausgehend vom Friedensengel schlängelt sich die von Villen gesäumte Straße parallel zum Isarufer bis zur Max-Joseph-Brücke. Auf 965 Metern entstand hier in den Nachkriegsjahren ein Mikrokosmos an jüdischem Leben, der auch die Nachbarstraßen mit einbezog. In der Forschung fasst man heute die querenden Siebertstraße, Höchlstraße und Hompeschstraße sowie die parallel verlaufenden Ismaninger- und Maria-Theresia-Straße unter dem Oberbegriff „Möhlstraße“ zusammen.2

Ihren Höhepunkt an Bekanntheit erreichte die Möhlstraße unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals siedelten sich hier viele internationale Hilfsorganisationen an, die für jüdische Holocaust-Überlebende – sogenannte Displaced Persons oder DPs – zuständig waren. Im Umfeld dieser Organisationen entwickelte sich ein reges jüdisches Kulturleben sowie ein Schwarzmarkt, der schnell Legendenstatus erreichte.

Die Straßenbahn, die von DP-Lagern am Stadtrand zur Möhlstraße führte, erhielt im Volksmund passenderweise den Spitznamen „Palestine Express“ – heute können Sie mit der Straßenbahnlinie 17 zur Möhlstraße fahren, um Spuren jüdischen Lebens zu entdecken.

Die Möhlstraße – Ein kleiner historischer Abriss

Die Anfänge der (jüdischen) Geschichte der Möhlstraße finden sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als in Bogenhausen ein großbürgerliches Villenviertel entstand. Bald war die Gegend als „Kulturdorf“ oder „Gelehrtenrepublik“ bekannt, viele Großbürgerliche, Künstler*innen und Professoren siedelten sich hier an.

Zu den Bewohner*innen zählten der sogenannte Malerfürst Franz von Stuck, die Architekten des Friedensengels Heinrich Düll und Georg Pezold sowie der Chemie-Nobelpreisträger Richard Willstätter. Letzterer trat 1924 von seinem Lehrstuhl an der LMU zurück, um gegen antisemitisch motivierte Berufungspraktiken zu protestieren.

Viele der prunkvollen Villen am Isarhochufer gehörten jüdischen Familien – wie dem bekannten Kinopionier und Filmkaufmann Karl Wiesel (Möhlstraße 9) oder der Privatiere Klara Herz, die sogar eine Doppelvilla besaß (Möhlstraße 30).

Historisches Gebäude in der Möhlstraße 9, aufgemalte Fassade auf gelben Grund
Bis heute strahlt die Möhlstraße 9 durch ihre außergewöhnliche Architektur – die Säulen sind nur aufgemalt. © Lilly Maier.

In den 1930er-Jahren vertrieben die Nationalsozialisten diese Juden und Jüdinnen, „arisierten“ deren Häuser und verwendeten sie für eigene Zwecke. In der Möhlstraße wohnten nun SS-Größen wie Heinrich Himmler. Außerdem mussten immer wieder Häftlinge aus dem Konzentrationslager Dachau Zwangsarbeit in der Straße leisten.

Mit der Befreiung Münchens durch die Amerikaner begann das dritte Kapitel in der Geschichte der Möhlstraße. In einer Entwicklung, die kurz zuvor wohl niemand für möglich gehalten hätte, wurde die ehemalige „Stadt der Bewegung“ Anziehungspunkt für zahlreicheJuden und Jüdinnen – und die Möhlstraße zum Zentrum jüdischen Lebens.

Die Möhlstraße in der Nachkriegszeit

Der Rest der Geretteten

Nach Kriegsende zog es Zehntausende jüdische DPs nach Bayern, viele von ihnen flohen vor Pogromen in Polen. Im Oktober 1947 hielten sich zum Beispiel 75.000 osteuropäische Jüdinnen und Juden im Großraum München auf.

Wichtig zu betonen ist: In ihrer eigenen Wahrnehmung befanden sich diese Menschen nicht in Deutschland, sondern in der amerikanischen Besatzungszone. Hier fühlte sich der „Rest der Geretteten“ (Sche’erit Hapletah) sicher. Hier wollten sie auf ihre Auswanderung nach Palästina oder in die USA warten.

Viele der ursprünglichen Besitzer*innen der Villen in der und um die Möhlstraße hatten den Holocaust tragischerweise nicht überlebt. Also übergaben die Amerikaner die einst von den Nationalsozialisten beschlagnahmten Gebäude nun an NGOs, die sich um jüdische Holocaust-Überlebende kümmerten.

Zu den wichtigsten zählten folgende amerikanischen Organisationen:

  • Joint (American Jewish Joint Distribution Committee)
  • UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration)
  • HIAS (Hebrew Immigrant Aid Society)

Dazu kam das selbstverwaltete Zentralkomitee der befreiten Juden in Bayern.

Diese Hilfswerke kümmerten sich um Essen, Kleidung, Familienzusammenführung und Auswanderung der DPs. Mit der Zeit folgten immer mehr humanitäre und kulturelle Einrichtungen. Bald gab es in der Möhlstraße eine jüdische Apotheke, wenig später eine Synagoge und eine jüdische Schule.

Auswahl an jüdischen (Hilfs-)Organisationen im Gebiet um die Möhlstraße

Möhlstraße 10:

  • Auswanderungsabteilung JOINT
  • ORT-Schule, Berufsausbildung für jüdische Kriegswaisen
  • ab 1948: gemeinsames Displaced Persons Coordinating Committee von JOINT und HIAS

Möhlstraße 12a:

  • zionistische Vereinigung „Merkaz La-Golah“
  • jüdische Zeitungen

Möhlstraße 14:

  • „Bayerisches Hilfswerk für die durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen“ (also nur für die überlebenden deutschen Juden)
  • Heim der jüdischen Jugend (Vorläufer des heutigen Kulturzentrums der IKG)

Möhlstraße 18:

  • Jewish Agency for Palestine (Auswanderungshilfe)

Möhlstraße 37:

  • HIAS (Hebrew Immigrant Aid Society, für Auswanderung)

Möhlstraße 43:

  • Münchner Stadtkomitee des Zentralkomitees der befreiten Juden in Bayern
  • Suchdienst
  • jüdische Apotheke
  • Zugang zum jüdischen Krankenhaus

Möhlstraße 45:

  • jüdischer Kindergarten
  • jüdische Volksschule
  • jüdisches Gymnasium
  • Bibliothek

Siebertstraße 3:

  • Hauptbüro JOINT (Hilfe für DPs)
  • Presseabteilung des Münchner Stadtkomitees des Zentralkomitees der befreiten Juden in Bayern

Ismaninger Straße 47a:

  • Versorgungsabteilung JOINT

Neuberghauser Straße 11:

  • orthodoxe Synagoge
  • Mikwe (rituelles Bad)
  • Möglichkeit für rituelle Schlachtungen im Keller

Ein jüdischer Schwarzmarkt

Aufgrund der weltpolitischen Situation verzögerte sich die geplante Auswanderung für viele DPs. Im selben Maße entwickelte sich das jüdische Leben in Bogenhausen: Theater, Zeitungen, Tanzlokale und immer mehr jüdische Geschäfte entstanden.

„Mir szeinen doh!“, fasst der Bogenhausener Stadthistoriker Willibald Karl die Grundstimmung der jüdischen DPs zusammen. Für mehrere Jahre wurde die Möhlstraße „zum Zeichen und Zeugnis des Überlebenswillens des jüdischen Volkes“, so Karl in seinem Buch „Die Möhlstraße“.3

Auch unter der nichtjüdischen Bevölkerung Münchens wurde die Möhlstraße rasch ein sehr bekannter und äußerst beliebter, ja sogar sagenumwobener Ort. Grund dafür war der jüdische Schwarzmarkt, an den sich viele ältere Münchner*innen noch heute erinnern.

Entgegen der – bis heute – weitverbreiteten Meinung handelte es sich dabei jedoch um keinen reinen Schwarzmarkt. Tatsächlich erhielten jüdische DPs von der US-Armee oft bessere Zulagen als die Stadtbevölkerung. Außerdem schickten ihnen amerikanische Hilfsorganisationen regelmäßig Carepakete. Bald begannen die DPs, Essen, Kleidung und Genussmittel wie Kaffee, Zigaretten und Alkohol aus diesen Carepaketen zu tauschen und zu verkaufen. Bereits im Frühjahr 1945 entwickelte sich so ein geschäftiges Marktleben in den Vorgärten der jüdischen Organisationen.

Männer stehen vor dem koscheren Restaurant Astoria in der Möhlstraße 34.
Philipp Auerbach (Mitte) – der Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte in München – vor dem koscheren Restaurant Astoria in der Möhlstraße 34. Foto: Alex Hochhäuser, © United States Holocaust Memorial Museum.

Als Merkmal eines spezifisch jüdischen Marktes hatten alle Geschäfte samstags wegen der Schabbat-Ruhe geschlossen. Zum Ausgleich konnte man sonntags einkaufen, was bei den Münchner*innen besonders beliebt war. „Der Sonntag war ja der große Einkaufstag. Ich will jetzt nicht übertreiben, aber da kamen dann Tausende Menschen hierher“, erzählte mir David Stopnitzer, dessen Eltern eines der Geschäfte betrieben.

Nach der Währungsreform 1948 wuchs sowohl die Vielfalt des Warenangebots als auch die Dimension des Marktes enorm. Auf dem Höhepunkt gab es zwischen 100 und 130 Läden, dazu kamen koschere Cafés und Restaurants. Das Besondere war das große Angebot an Mangel- und Luxuswaren zu Rabattpreisen. In der Möhlstraße gab es: Kaffee, Tee, Alkohol, Schokolade, Nylonstrümpfe, Stoff, Uhren, Silberwaren, frisches Obst, Gemüseund koscheres Fleisch

So erinnert sich Charlotte Knobloch:

Hier in der Möhlstraße aber gingen mir die Augen über. Da gab es alles, was man sich vorstellen konnte. Und manches darüber hinaus. Lebensmittel, Werkzeug, Kleidungsstücke, Mobiliar, Musikinstrumente, Spirituosen, dazwischen thronte ein alter siebenarmiger Leuchter.4

Die Preise waren in der Möhlstraße wesentlich niedriger als in den restlichen Geschäften Münchens. Dies war einerseits möglich, weil in der Möhlstraße mit unversteuerten, teilweise auch illegal beschafften Waren gehandelt wurde. Außerdem lebten die DPs, von denen viele Konzentrationslager oder Zwangsarbeit überlebt hatten, oft sparsam und enthaltsam, wodurch sie geringere Ausgaben hatten.

Die Münchner Polizei und die Möhlstraße

berittene Polizei patrouilliert in der Möhlstraße.
Die Münchner Polizei patrouilliert in der Möhlstraße. Foto: Alex Hochhäuser, © United States Holocaust Memorial Museum/Alex Hochhäuser.

Der Münchner Polizei war das in ihren Augen illegale Marktwesen ein Dorn im Auge. Im Sommer 1949 starteten sie deswegen die „Aktion Möhlstraße“, eine Razzia mit Hunderten Polizisten, die ineiner regelrechten Straßenschlacht ausartete. Der Antisemitismusvorwurf ging um die Welt.

Am 12. Juli 1949 schrieb die in München verlegte „Neue Zeitung“:

Der Kurfürstendamm in Berlin und die Champs Elysées in Paris haben Jahrzehnte gebraucht, ehe sie weltweit bekannt wurden. Die Münchner Möhlstraße brauchte dazu nur wenige Stunden. Eine Razzia der Polizei genügte. Aber was für eine Razzia! Sie wird in die Geschichte des Polizeiknüppels eingehen.5

Nur einen Monat später kam es zu einer erneuten Straßenschlacht zwischen DPs und der Polizei in der Möhlstraße. Diesmal wurden sogar drei jüdische Demonstranten durch Schüsse verletzt. Auslöser war eine Demonstration der DPs gegen die „Süddeutsche Zeitung. Diese hatte einen antisemitischen Leserbrief veröffentlicht, der mit dem bezeichnenden Pseudonym „Adolf Bleibtreu“ gezeichnet war. Die „Affäre Bleibtreu“ entwickelte sich rasch zum Politikum, auf Transparenten verglichen DPs die SZmit dem „Stürmer.

Es wird ruhiger in der Möhlstraße

tausende Menschen feiern in der Möhlstraße die Staatsgründung Israels.
Tausende jüdische DPs feiern die Staatsgründung Israels in der Möhlstraße. Foto: Alex Hochhäuser, © United States Holocaust Memorial Museum.

Nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 wurde es ruhiger rund um die Möhlstraße. Viele der DPs wanderten nun nach Israel aus. Viele, aber nicht alle. Auch wenn es niemand geplant hatte, blieben doch zahlreiche Jüdinnen und Juden in München. Kinder waren geboren und eingeschult worden, man hatte Karriere gemacht und sich an die Stadt gewöhnt. Der Markt verkleinerte sich, aber erst Mitte der 1950er-Jahre schloss das letzte jüdische Geschäft.

Die Möhlstraße blieb weiterhin Zentrum jüdischen Lebens, wenn auch kleiner und leiser. Bis in die 1970er-Jahre befand sich hier eine Synagoge, die jüdische Sinai-Grundschule zog erst im Jahr 2007 von der Möhlstraße zum St.-Jakobs-Platz in der Münchner Innenstadt. Und bis heute befindet sich eine jüdischee Krippe in der einst so berühmten Straße.

Lesetipp zum Fotografen Alex Hochhäuser & zur Möhlstraße

  1. Charlotte Knobloch: In Deutschland angekommen – Erinnerungen. München 2012, S. 113. ↩︎
  2. Lilly Maier (Hrsg.): Die Möhlstraße – Ein jüdisches Kapitel der Münchner Nachkriegsgeschichte, München 2018 (= Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 12,1). ↩︎
  3. Willibald Karl: Die Möhlstraße. München 1998, S. 70. ↩︎
  4. Vgl. FN 1, S. 114. ↩︎
  5. „Der Polizeiknüppel“, Artikel aus „Die neue Zeitung“. Abgedruckt in: „Die Abendzeitung“ Nummer 168, Mittwoch 13. Juli 1949, Seite 3. ↩︎

Förderung

Gefördert durch die Landesstelle der nichtstaatlichen Museen in Bayern.

Autor*innen-Info

Profilbild Lilly Maier

Dies ist ein Gastbeitrag von Lilly Maier

Lilly Maier ist Historikerin und Autorin. 2018 erschien ihr Buch „Arthur und Lilly. Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende“, die Biografie eines Holocaust-Überlebenden, der in derselben Wohnung aufwuchs wie sie selbst. 2021 folgte ihr zweites Buch „Auf Wiedersehen, Kinder!“, eine Biographie über den Reformpädagogen und Retter jüdischer Kinder Ernst Papanek.

Derzeit promoviert Maier an der LMU München mit einer Arbeit über Frauen als Retterinnen von Juden. Sie spricht regelmäßig zu jüdischen und historischen Themen, eine Übersicht all ihrer Termine findet ihr auf der Website der Autorin. Foto: © Sophia Lindsey

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