Erika Mann liebte Frauen. Anders als in ihrem Kampf für Demokratie trat sie hierfür jedoch nie öffentlich für Homosexualität ein. Wie ist dieses Schweigen heute zu lesen? Wie können wir aus der Gegenwart reagieren, wenn die historische Protagonistin scheinbar nicht befreit werden möchte? Und welche Aufgabe hat ein Literaturarchiv hierbei?
Mit dem Schweigen sprechen. How Erika can queer us
Theresa Seraphin fragt im Rahmen von #femaleheritage nach queeren Lebensrealitäten in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts und dem symptomatischen Schweigen einer Künstlerinnengeneration, für die ein öffentliches Coming-Out keine Befreiung bedeutete. Eine literarische Spurensuche zwischen individuellen Leerstellen und struktureller Unsichtbarkeit.
l. Auf der Suche nach der Queerness bei Erika Mann
Als Lisa Jeschke und ich vor einem guten Jahr im Anschluss an den Schamrock-Salon der Dichter*innen, der in der Monacensia stattfand, die Einladung bekamen, uns im Rahmen der Erika Mann-Ausstellung weiter mit Erika Mann und Therese Giehse zu beschäftigen, war ich mir der Komplexität und Vielschichtigkeit dieser Auseinandersetzung nicht bewusst. Über die Queerness bei Erika Mann und Therese Giehse, so stand es in unserem Vertrag, und so begannen wir zu lesen und zu recherchieren, was es herauszufinden gab: Nicht viel. Und gleichzeitig: Alles.
Tatsächlich hat Erika Mann selbst nie öffentlich über die Art ihres Begehrens gesprochen oder geschrieben. Sicher, da gibt es die inszenierten Bilder der Frau im Hosenanzug, im Rennwagen mit bubenhaften Haarschnitt, oder im Partnerlook, weißes Hemd und Krawatte, neben ihrem Bruder Klaus. Es gibt auch das Wissen um ihre „Freundschaften“ zu Pamela Wedekind oder Therese Giehse, zusammengetragen in einer Vielzahl an Biographien. Und es gibt Erikas Briefe an die Freundinnen, die von einer unbeschreiblichen Nähe zeugen. Zu all dem aber kein offizieller Satz. Kein Essay, keine Rede, kein Gedicht.
Und so kommt es, dass 2019, also 50 Jahre nach ihrem Tod, eine Ausstellung kuratiert wird, die einerseits so nah wie möglich an ihre Protagonistin heranwill, und sie dafür durch eine Vielzahl von Zitaten selbst zu Wort kommen lässt. Und andererseits genau durch diese Nähe die Art und Weise, wie diese Protagonistin geliebt hat, unausgesprochen lässt.
Gut, könnten wir sagen, was interessiert uns ihr Begehren, wo wir sie doch als Kämpferin für die Demokratie zeigen wollen? Und da ist sicher etwas Wahres dran. Die Zuschreibung von politischen Labels bzgl. Herkunft und sexueller Orientierung läuft immer Gefahr, vom eigentlich Gesagten abzulenken. Und die Frage wer, mit welcher Identität, spricht, ist nicht immer die sicherere Spur für Differenzierung als die Frage was gesagt wird. Trotzdem aber, und umso mehr wenn es darum geht, Erikas (wir duzen uns) „Konsequentes Eintreten für Freiheit und Demokratie“ in den Blick zu nehmen, darf die Auseinandersetzung mit dem ebenso politisch belasteten Liebesleben dieser Kämpferin nicht fehlen. Es freut mich daher sehr, dass Lisa Jeschke und ich im Rahmen der Ausstellung zu Erika Mann mit der Aufgabe betraut wurden, dieser Spur nachzugehen.
II. Ins Explizite: Offene Homosexualität in der Weimarer Republik
Erika schweigt also. Und dieses Schweigen wird erst so richtig hörbar, wenn man sich bewusst macht, wer alles in ihrer Umgebung spricht. Da ist direkt neben ihr ihr Bruder Klaus Mann, der 1926 mit „der fromme Tanz“ einen der ersten deutschsprachigen Romane über homosexuelle Liebe veröffentlicht und sich dadurch implizit selbst als homosexuell outet. Ein für Männer, im Gegensatz zu Frauen, unter § 175 geregelter Straftatbestand. Da ist, ebenfalls in München, die Bildhauerin und Autorin Christa Winsloe, befreundet mit Klaus und Erika, die 1930 mit ihrem Bühnenstück Ritter Nesteran und späteren Drehbuch ‚Mädchen in Uniform‘ (1931), den ersten Kinohit über eine lesbische Liebe landet, in dem Erika Mann eine kleine Rolle übernimmt. Oder da ist Magnus Hirschfeld, als Arzt und Gründer des Instituts für Sexualwissenschaft einer der wichtigsten Kämpfer gegen die Pathologisierung und Stigmatisierung gleichgeschlechtlicher Liebe.
Erikas Schweigen wird auch hörbar, wenn wir bedenken, wie viel sie sonst sprach. Wie sehr sie, einmal politisiert, die politische Bühne suchte, die Pfeffermühle gründete, sich in jungen Jahren öffentlich gegen den aufkeimenden Faschismus positionierte (als ihr Vater noch zögerte) und so mehr und mehr zu der antifaschistischen Kämpferin wurde, als die wir sie kennen. Ich erinnere mich an einen Moment unserer Recherche, in der mir das Ausmaß und auch die Tragik, die im Unaussprechlichen liegt, deutlich bewusst wurde. Ich stieß in den Tournee-Programmen der Pfeffermühle auf ein Lied, das Klaus Mann 1937 in New York geschrieben hatte. Auf die Melodie der Loreley dichtete er damals:
Ich weiß nicht was soll es bedeuten –
Er hat es mir angetan.
Aber im Städtchen die Leute,
Schauen mich böse an.
Und mein Vater droht, es setzt Hiebe,
und die Mutter schickt mich davon:
Denn der Jüngling welchen ich liebe,
ist vom alten Levy der Sohn.
Du bist doch ein arisches Mädchen!
Schreien die Leute im Städtchen!
Ach, wie ich sie hasse!
Den ganzen Tag hör‘ ich: Rasse!
Rasse – Rasse – Rasse...
(...)
Die Zeitung hat schon geschrieben,
der ganze Fall sei horrend,
unsittlich sei es, zu lieben
ein artfremdes Element.
(...)
Ach, wäre mein Haar doch nicht golden,
wie die Haare der Loreley -:
Dann liebte ich, wen ich möchte,
und keiner fänd‘ was dabei.
Quelle: Keiser-Heine: Erika Mann und ihr politisches Kabarett die Pfeffermühle, S. 219.
Kaum ein Lied der Pfeffermühle benennt so explizit die faschistischen Rassenideologie, deren Brutalität sich nicht zuletzt in dem Verbot der Liebe zweier Menschen füreinander zeigt. In diesem Lied wird deutlich, dass das Lieben Erikas und Klaus Manns als Kinder mit einer auch jüdischen Familiengeschichte und als queer Begehrende, ein doppelt angegriffenes war. Was für ein innerer Zwiespalt muss es für Erika gewesen sein, über das eine so klar zu sprechen und über das andere zu schweigen.
ll. Lücken im Gedächtnis: Lebensrealitäten queerer Künstler*innen
Die Lücke, die zwischen dem Werk Erika Manns und der Person Erika sichtbar wird, ist keine individuelle, sondern symptomatisch für die Lebensrealität queerer Künstler*innen, v.a. Frauen*, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Angesichts drohender juristischer Verfolgung, sowie regelmäßiger gewaltvoller Attacken gegen queere Menschen und ihre Orte, war Zurückhaltung in vielerlei Hinsicht ratsam. So gleicht das queere Leben dieser Zeit in Deutschland einem Geflecht aus Codes und privaten Solidargemeinschaften, politischen Vorstößen und öffentlichen Skandalen: Da sind beispielsweise die solidarischen Ehen innerhalb der queeren Community, die wie Ehe zwischen Erika Mann und Gustav Gründgens, die im heteronormativen Gewand zu Safe Spaces anderer Lebensformen werden konnten.
Es ließen sich Begriffe sammeln wie „Freundin“, „Schwester“ oder „Lehrerin“, die einen weiten Interpretationsspielraum hinsichtlich der Beziehung der Personen lassen. Dazwischen gelingen politische Vorstöße wie jener 1929, als der Strafrechtsausschuss der Weimarer Republik 1929 mit knapper Mehrheit die Straffreiheit „einfacher Homosexualität“ fordert. Und es finden sich juristische Fälle wie den der bisexuellen Tänzerin Maude Allan in London, die 1918 Opfer einer Hetz-Kampagne wird, als sie der der Parlamentarier Noel Billing sie in seiner Zeitung als „lesbisch“ bezeichnet. Ein Begriff, der erst seit den 1960ern als Selbstbezeichnung Frauen liebender Frauen fungiert, und dessen Zuschreibung in den 1920er Jahren rufschädigende Folgen haben konnte. (Vgl. Dawson, Leanna: From Brooklyn to Berlin: Queer Temporality, In / Visibility, and the Politics of Lesbian Archives.) Allans Klage wegen Verleumdung führt allerdings nicht zur gewünschten Verurteilung, sondern sie selbst steht plötzlich auf der Anklagebank und wird wegen Unzucht verurteilt.
Der unterdrückten Lebensform fehlen die Worte. Dieser Mangel ist Teil der Unterdrückung. Das Explizite ist das Einfache, das Erfasste und Artikulierbare. Die historischen Lücken des Expliziten fungieren darin wie Seismographen für die vollzogene Unterdrückung.
IV. Lücken im Archiv: Wie können wir mit Erika Manns Schweigen umgehen?
Diese Lücken schreiben sich bis heute auf unterschiedliche Weise fort. Sie schreiben sich fort in den Biographien zu Erika Mann, in denen ihre Liebesbeziehungen zu Pamela Wedekind und Therese Giehse seltsam schlicht und formal als „Freundschaft“ oder „Lebenspartnerschaft“ ad acta gelegt werden oder als Teil einer wilden Bohème, für deren überbordende Lebenslust und Freisinn die geltenden gesellschaftlichen Vorstellungen und juristischen Bedingungen keinerlei Reibungsfläche darstellten. Sie schreiben sich auch fort in der Praxis lesbischer Archive, wie z.B. dem LHA (Lesbian Herstory Archive) in New York, das seine Sammlung nach Vornamen sortiert, um die Spur ihrer Autor*innen auch nach dem Wechsel des Nachnamens nicht zu verlieren, und auch, weil viele Frauen* bei Veröffentlichungen die Anonymität ihres Vornamens wählen. (Dawson, Leanna: From Brooklyn to Berlin: Queer Temporality, In / Visibility, and the Politics of Lesbian Archives, in: Dawson, Leanne. Edinburgh German Yearbook 10 – Queering German Culture. Boydell & Brewer; 2017.)
Was also tun, wenn die historische Protagonistin zu kommunizieren scheint, dass sie nicht befreit werden möchte? Wer sind wir, dass wir in unserer historischen Begegnung mit einer Person, dieser etwas andichten, etwas zuschreiben, vor dem sie sich selbst so zurückgehalten hat? Aber historische Arbeit ist immer auch ein Austausch nicht nur mit der Vergangenheit, die wir bereisen, sondern auch mit der Zeit, in der wir leben. Wir nehmen unsere gesellschaftliche und politische Gegenwart in die historische Arbeit mit. Diese fordert ebenso Respekt und Loyalität von uns, wie das historische Material, das wir betrachten. In meiner künstlerischen Auseinandersetzung mit Erika, kam es mir oft vor, als würde ich Erika an einen Ort des Expliziten locken, den sie von sich aus, womöglich nie betreten hätte. Ich suchte in ihren Briefen, Interviews und Texten nach Spuren ihrer Liebe, nach Andeutungen und Hinweisen. Was meinte sie zum Beispiel, wenn sie in einem Interview mit Frank Raddatz von 1968, das auch in der Ausstellung zu sehen war, sagt, sie wären, auch wenn sie nicht politisch aktiv gewesen wären „ohnehin gegangen“. Weil sie dort „nicht hätten atmen können“? Und welcher Erkenntnis-Prozess steckt hinter der Aussage im gleichen Interview, dass sie in den Zwanzigern noch dachte: „Klaus ist ein Knabe und Politik ist ja wohl Männersache, er soll das mal machen.“
Die Auseinandersetzung mit Erikas Art zu lieben schmälert daher ihren Status als Freiheitskämpferin in keiner Weise, sondern fragt nach den komplexen Beziehungen zwischen der Person auf der einen und dem politischen Kampf auf der anderen Seite. Sie stellt die Frage, wessen Freiheit Erika gegen den Faschismus zu verteidigen versuchte. Es war, in mehrfacher Hinsicht, ihre eigene: Als Demokratin, Mensch mit jüdischem Hintergrund UND als Frau, die Frauen liebt.
Ein solcher gegenseitiger Dialog – aus der Gegenwart in die Vergangenheit und aus dieser in die Gegenwart und Zukunft, zeichnet ein lebendiges Archiv aus. Ein Archiv, das das Vergangene nicht verwahren will, sondern dem Vergangenen selbst noch das Unsichtbare, das, was die historische Zeit uns verwehren will, abzuringen versucht, um es in die Gegenwart hinein fruchtbar zu machen. Denn die Frage danach, was wir erzählen und was wir verschweigen, ist zugleich die Frage danach, mit wem wir heute in Dialog treten wollen.
Es gibt in den Gender-Studies den Begriff des Passings, der sich auf das gesellschaftliche Lesen von Personen als u.a. männlich, weiblich, hetero- oder homosexuell bezieht, wobei der Begriff meistens das „passen“ innerhalb der gesellschaftlichen heterosexuellen Norm meint. Transpersonen sehen sich oft damit konfrontiert, dass ihr Umfeld sie, trotz ihrer eigenen Zuschreibung zu einem der beiden Geschlechter, weiterhin mit dem Ausgangsgeschlecht identifiziert. Eine lesbische Person kann heterosexuell gelesen werden, weil sie nicht die damit verbundenen Stereotype – also kurze Haare, forsches Auftreten etc. reproduziert.
Mein Wunsch für die gegenwärtige Erika Mann Rezeption wäre es, dass Erika nicht Gefahr läuft, unter heteronormativen Maßstäben zu „passen“, sondern auch in der politische Gegenwart gegen diese falsche Vereinnahmung gewappnet ist und so jene Wehrhaftigkeit behält, die sie zu ihren Lebzeiten so entschieden gegen den Faschismus kämpfen ließ.
Im Auftrag der Monacensia arbeiteten Theresa Seraphin und Lisa Jeschke begleitend zur Ausstellung „Erika Mann. Kabarettistin – Kriegsreporterin – Politische Rednerin“ zum Thema Queerness bei Erika Mann. Es entstand unter anderem die Audio–Performance „Erika & Therese GAY AGAIN“. Im Rahmen von #femaleheritage berichten Lisa Jeschke und Theresa Seraphin ausgehend von ihrer Arbeit an „Erika & Therese GAY AGAIN“ in zwei Blogbeiträgen über historische Hintergründe und Ungereimtheiten, Archivlücken und Leerstellen im kulturellen Gedächtnis. Lest hier den Beitrag von Lisa Jeschke „Lasst uns über Gender reden”. Arbeitsnotizen zu Gender und Archiv.
Lest hier das Interview mit Theresa Serpahin und Lisa Jeschke bei uns im Blog: GAY AGAIN – Theresa Seraphin und Lisa Jeschke im Interview