Zum 100. Todestag von Ludwig Ganghofer entschied sich die Monacensia, die von ihm in Gabelsberger Kurzschrift verfassten Kriegstagebücher auf dem Portal der monacensia-digital.de zur Verfügung zu stellen. Können diese helfen, die komplexe Persönlichkeit Ganghofers besser zu verstehen? Frank Schmitter, Leiter des Literaturarchivs der Monacensia, hat in ihnen geblättert.
Die widersprüchlichen Identitäten des Ludwig Ganghofer
Naturverbundener Förstersohn, weltoffener Künstlerfreund und wilhelminische Schreib-Kanone
Ludwig Ganghofer habe ich im Fernsehen entdeckt, nicht im Bücherschrank. Er lieferte bekanntlich einige Stoffe für das Genre der sensationell erfolgreichen Heimatfilme. Sie erlaubten einer kriegstraumatisierten Nation zumindest für einige Stunden den Blick weg von zerstörten Städten hin zu unberührter Natur. Wo unter strahlend blauem Himmel der Förster den Wilderer überführte, das Gute über das Böse triumphierte.
Ehrlich gesagt hatten mich diese Verfilmungen nicht auf die Bücher neugierig gemacht. Ludwig Ganghofer, der Förstersohn aus Kaufbeuren und Pächter eines großen Jagdhauses in Tirol, lag einfach zu bequem in der Schublade der perfekt geschnitzten Unterhaltungsliteratur.
Wen Gott lieb hat, den lässt er fallen ins Berchtesgadener Land.
Ludwig Ganghofer
Wer sich allerdings näher mit seinem Nachlass beschäftigt – 62 Kassetten mit über 100 Biografischen Dokumente, annähernd 1.000 Briefen, fast 250 Manuskripten und zahlreichen Fotos – wird eine Überraschung erleben. Die Liste seiner Korrespondenzpartner ist lang und voller großer Namen: Paul Heyse, Richard Strauß, Franz von Stuck, Ludwig Thoma, Rainer Maria Rilke, Michael Georg Conrad, Hugo von Hofmannsthal und viele andere. Ludwig Ganghofer tauschte sich intensiv mit Thomas Mann aus, als dessen einziges Drama „Fiorenza“ auf mehreren Bühnen durchfiel. Er brachte den noch unbekannten Rainer Maria Rilke mit seinem Verleger in Verbindung. Er unterstützte Frank Wedekind, als dessen frechen Theaterstücken und Bänkelliedern Zensur drohte. Und er gründete die „Münchner Literarische Gesellschaft„, ein Nährboden der progressiven Literatur.
Ludwig Ganghofer galt als freundlich, umfassend gebildet, kontaktfreudig und unkompliziert. Man findet keine negativen persönlichen Aussagen über ihn. Seine Liebesheirat mündete in eine langlebige, skandalfreie Ehe. Ja, man muss ihn förmlich mögen, diesen unprätentiösen Autor, der von 1894 bis zu seinem Tod in der Steinsdorfstraße 10 im Münchener Stadtteil Lehel wohnte.
Wenn da nicht dieser nationalistische Jubel über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen wäre. Gewiss, namhafte Autoren wie Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal taten es ihm gleich, sehnten sich nach einer „großen Reinigung“ und stellten sich als „Soldaten des Geistes“ dem Vaterland zur Verfügung.
Die Kriegstagebücher des Ludwig Ganghofer: wilhelminischer Patriot
Ludwig Ganghofer war bei Kriegsausbruch immerhin schon 59 Jahre alt und nicht mehr tauglich zum Dienst an der Waffe. Er reiste als Kriegsreporter zwischen 1915 und 1917 vier Mal an die West- und Ostfront. Seine Erfahrungen publizierte er in insgesamt fünf Büchern, die in hohen Auflagen erschienen – säbelrasselnde Kriegspropaganda pur. Parallel unternahm er längere Vortragsreisen, für die er über 20.000 Mark erhielt. Waren sein Nationalismus, seine unbedingte Kaisertreue vielleicht im Kern eine Inszenierung um des literarischen Erfolgs willen? Schwamm er sozusagen nur auf der patriotischen Welle, um als Autor nicht seine Leser zu verlieren?
Ein Zug Blaujacken kommt von der Ablösung. Wenn ihr daheim nur das sehen könntet: diese braunen, wie aus lichtem Kupfer gegossenen Gesichter, diese Blitzaugen, dieses Lachen, diese Kraft in den Gliedern, diese straffen Sehnen an den nackten Hälsen – wahrhaftig, man muss da zittern: Lieb Vaterland, kannst ruhig sein.
Monacensia-Digital, Ludwig Ganghofer, Kriegstagebuch, S. 7
Die Antwort können seine Kriegstagebücher geben, die zu seinem Nachlass gehören. Die persönlichen Aufzeichnungen hat bislang niemand im Archiv eingesehen, denn sie sind in der Gabelsberger Kurzschrift geschrieben. Zum hundertsten Todestag hat sich die Monacensia deshalb entschlossen, sie Schritt für Schritt transkribieren und auf dem Portal monacensia-digital.de der Forschung und interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Prof. Dr. Gertrud Rösch hat sie in einem Essay genauer beleuchtet.
Wer tatsächlich gehofft hat, eine Differenz zwischen unmittelbarer, persönlicher Wahrnehmung und der publizierten Kriegspropaganda zu finden, wird – zumindest am Anfang – bitter enttäuscht. Ludwig Ganghofers Notizen sind lebendig, erfassen Details, Stimmungen, Begegnungen. Aber nichts kann seinen schwärmerischen Patriotismus, seine nationalistisch-selektive Wahrnehmung erschüttern.
Wie da jeder Bissen mundete! Und jeder freundliche Deutsche zutrank! Ich glaube sogar, dass ich
Monacensia-Digital, Ludwig Ganghofer, Kriegstagebuch, S. 19einen kleinen Schwipsso was Ähnliches wie ein fideles Räuschlein hatte – aber nicht vom Weizen, sondern vom frohen Wirbel meiner deutschen Freunde, von allem stolzen und süßen Nachgefühl der herrlichen Dinge, die ich gesehen!
Zur Erinnerung: Es handelt sich nicht um ein Lagerfeuer und Indianerspiele unter Jugendlichen, sondern um den Ersten Weltkrieg. Dieser entwickelte sich in jener Region, in der Ganghofer sich zu dieser Zeit aufhielt, zu einem barbarischen Stellungskrieg. Aber noch hält der Wahrnehmungs-Panzer die Wirklichkeit von sich. Andere Autoren und Künstler wie Georg Trakl waren da bereits an ihren Erlebnissen verzweifelt.
Der Ton wird nur langsam nüchterner und deskriptiver.
Wegbilder. Die Kolonnen in ihrer Mühsal. Die niederbrechenden Pferde, neben der Straße die totgeschossenen Gäule. Die einsam wandernden Feldgrauen. Die kleinen Dörfer auf den Hügeln. Die Friedhöfe mit den vielen hohen Kreuzen. Die zertrümmerten Proviantwagen. Bei den gefallenen Pferden die herrenlosen Hunde, die fressenden, die satt um den Kadaver herumsitzenden, und solche, die sich nach der Sättigung das sportliche Vergnügen der Jagd auf Hasen und Rebhühner vergönnen.
Monacensia-Digital, Ludwig Ganghofer, Kriegstagebuch, S. 62–63
Aber immer noch scheint der Bestsellerautor bemüht, das alles wie ein großes Abenteuer betrachten zu wollen, wie einen Ausflug unter lieben Freunden:
Gute Unterkunft, gemütlicher Tisch, man teilt, was man hat, und schwatzt in Freude von daheim, und ein Kartoffelsalat von echt bajuwarischen Qualitäten mildert mir freundlich alle Schrecken des Krieges.
Monacensia-Digital, Ludwig Ganghofer, Kriegstagebuch, S. 63
Immerhin – zum ersten Mal taucht die formelhafte Formulierung „Schrecken des Krieges“ auf. Das lässt aufhorchen – und stellt gleichzeitig die Frage, wie lange Ludwig Ganghofer in seinen Tagebüchern die patriotische und verbrämende Sicht aufrecht halten kann, und ob nicht doch irgendwann ein Graben sichtbar wird zwischen der publizierten Kriegspropaganda und seinen persönlichen Erlebnissen. Die folgenden sechs Bände werden mit Spannung erwartet …
Autor: Frank Schmitter, ehemaliger Leiter Literaturarchiv/Monacensia
Alex Burkhard – Auseinandersetzung mit Ludwig Ganghofer
Eine ungewohnte Sicht auf Ludwig Ganghofer bietet Alex Burkhard. Der Kabarettist und Poetry Slammer setzt sich anlässlich des 100. Todestags Ludwig Ganghofers mit Leben und Werk des ambivalenten Schriftstellers auseinander.