Immer noch engagieren sich zu wenig Frauen in der Kommunalpolitik – warum? Und wie kann sich das ändern? Das Haus der Geschichte stellt das Gemeinschaftsprojekt „Ohne Unterschied“ vor – eine Website mit Biografien von Kommunalpolitikerinnen Baden-Württembergs. Sie zeigen warum und wie sich Frauen in Gemeinderäten engagieren. Ein Beitrag zur Blogparade #femaleheritage“
Mit der Website „Ohne Unterschied des Geschlechts“ zeigt das Haus der Geschichte Baden-Württemberg 75 Kommunalpolitikerinnen
Am 29. November 2020 wählten die Stuttgarterinnen und Stuttgarter einen neuen Oberbürgermeister. Zur Wahl standen nur Männer, denn die im ersten Wahlgang Zweitplatzierte hat zurückgezogen. Typisch weiblich?
Über 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts ist die Beteiligung von Frauen an politischen Entscheidungsprozessen immer noch viel zu gering. Im deutschen Bundestag sind 31,3 Prozent der Abgeordneten Frauen, im baden-württembergischen Landtag 26,6 Prozent. Und auf Gemeindeebene stellen Frauen hier ebenfalls nur rund 27 Prozent der gewählten Vertreter*innen.
Warum ist der Anteil an Frauen in politischen Entscheidungsprozessen so gering?
Die Soziologin Elke Wiechmann nennt sechs Gründe:
- Sozialisationsthese: Zur Frauenrolle gehörte traditionell, sich für Politik nicht zu interessieren. Viele Frauen haben ein zu geringes Selbstbewusstsein, um politische Ämter von sich aus anzustreben. Auch im 21. Jahrhundert.
- Abkömmlichkeitsthese: Die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung führt bei den Frauen zu einer Doppelbelastung durch Arbeit und Familie/Care-Arbeit. Als Folge haben Frauen oft keine Zeit für politische Ämter. Leuchtet ein.
- Sozialstrukturthese: Frauen sind seltener als Männer in beruflichen oder ehrenamtlichen Führungspositionen vertreten, die die Aussicht auf ein politisches Mandat erhöhen. Besonders im baden-württembergischen Gemeindewahlrecht spielt die persönliche Bekanntheit in der Kommune eine Rolle. Ein Teufelskreis.
- Diskriminierungsthese: Frauen werden in Parteien von Führungspositionen bewusst ausgeschlossen. Das „old-boys-network“ innerhalb der Parteien reproduziert sich selbst und fördert nur Männer. Das führt sofort zur nächsten These:
- Quotenthese: Je mehr Parteien mit Quotenregelung in Parlamenten vertreten sind, umso höher wird der Frauenanteil. Siehe „Bündnis 90. Die Grünen“, die schon 1986 mit einem „Frauenstatut“ die Parität von Frauen und Männern in allen Parteigremien eingeführt haben und jetzt im Landtag eine Quote von 46 Prozent erreicht haben. (Bild siehe unten)
- Wahlverhalten: In personenbezogenen Wahlen entscheiden sich Wähler*innen eher für Männer. Warum auch immer.
Website „Ohne Unterschied“ – Biografien von Frauen in baden-württembergischen Gemeinderäten
Das Haus der Geschichte ist kein wissenschaftliches Institut, sondern ein Museum, das Geschichten erzählt. Deshalb ist unsere Herangehensweise an diesen Fragenkomplex: Geschichten erzählen. Wir sammeln auf der Website www.ohne-unterschied.de die Biografien von Frauen, die seit 1919 in den baden-württembergischen Gemeinderäten vertreten waren. Aus dieser Vielzahl von Geschichten und Perspektiven soll dann ein Gesamtbild entstehen, in dem deutlich wird, wieviele unterschiedliche Antworten es auf die Frage gibt, WARUM Frauen in der Kommunalpolitik sich engagieren und WIE ihre Erfahrungen sind.
Da gibt es Diskriminierungsgeschichten, die Wut machen. Beispielsweise Wilhelmine Döserich aus Offenburg. Die kommunistische Stadträtin, alleinerziehende Mutter von vier Kindern, fliegt 1932 aus ihrer Wohnung. Angeblich habe sie ihre Kinder vernachlässigt, weil sie abends so oft außer Haus war. Eine glatte Lüge. Die FDP-Gemeinderätin Ellen Kleiber wurde im männerdominierten Gemeinderat von Weingarten zunächst systematisch ausgegrenzt. Als sie im Dezember 1978 ihre erste Haushaltsrede halten sollte, gab ihr ein männlicher Kollege auf den Weg:
Frau Gemeinderätin Kleiber, das müssen Sie sich merken, wenn wir Männer 10 Minuten haben, haben sie als Frau 3 Minuten.
Kleiber
Und Geschichten, die Mut machen. Erika Gerlach aus Mühlacker. Die CDU fragt die Leiterin des Pauluskindergartens Ende der 1960er Jahre, ob sie nicht als Gemeinderätin kandidieren möchte. Doch sie traut sich das zunächst nicht zu, ihr Vater muss ihr gut zureden. Dann wird sie 40 Jahre lang Gemeinderätin sein. Oder Johannah Illgner, seit 2019 für die SPD im Heidelberger Gemeinderat. Sie hat sich den Themen Diversity, Empowerment von Frauen und weibliche Netzwerke verschrieben, und kann sich nun ganz konkret für ein feministisches Zentrum oder Kurzzeitschutzwohnungen für gewaltbedrohte Frauen stark machen.
Ziele des Gemeinschaftsprojektes – mehr Beteiligung von Frauen in der Kommunalpolitik
Warum wir uns auf Frauen in kommunalen Parlamenten konzentrieren, hat mehrere Gründe. Die Wahl zur Gemeinderätin ist eigentlich eine sehr niederschwellige Möglichkeit, sich politisch zu engagieren. Und TROTZDEM sind hier am wenigsten Frauen vertreten. Das soll sich ändern, und wir zeigen Vorbilder. Denn Kommunalpolitik geht jede*n an!
Auch historisch gesehen ging die Beteiligung von Frauen in kommunalen Gremien dem Frauenwahlrecht voraus. So wurde in den Landtagen Badens und Württembergs schon vor 1918 immer wieder die Frage diskutiert, ob Frauen nicht an der Gemeindeverwaltung beteiligt werden sollten. Angestoßen von den Frauen selbst: Mit Petitionen und öffentlichen Versammlungen verschafften sie sich Gehör und brachten ihre Forderung nach politischer Beteiligung auf die Tagesordnung. Als in Baden 1910 die Gemeindeordnung erneuert wurde, übten die Frauenwahlrechtsvereine so viel Druck aus, dass in der Gemeindeordnung die Beteiligung von Frauen in manchen Kommissionen gesetzlich festgeschrieben wurde. „Es empfehle sich,“ argumentierte der Landtag, „in diesem Fall einen gesetzlichen Zwang auszuüben, denn man habe es hier mit Widerständen zu tun, die sich weniger aus dem Verstand als aus dem Gefühl herleiten und daher schwer zu bekämpfen seien.“ Die erste Quotenregelung!
Wir wollen mit Ihnen ins Gespräch kommen!
Die Webseite ist ein Gemeinschaftsprojekt des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg und der Stabsstelle der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg. Bislang sind 75 Biographien vorgestellt. Das reicht nicht! Wir brauchen Mithilfe. Landesweit gibt es zahlreiche politische Akteurinnen und Akteure, Historikerinnen und Historiker, außerparlamentarischen Gruppen und Interessensgemeinschaften, die sich mit dem Thema der Geschlechtergerechtigkeit in der Politik beschäftigen. Wir wollen mit Ihnen ins Gespräch kommen und Sie einbeziehen. Die persönliche Perspektive durch Interviews, Bild- und Tonmaterial ist uns wichtig. Unser Sammlungsprojekt soll so viele Stimmen wie möglich einfangen und langfristig als Plattform einen vielschichtigen Blick auf die Repräsentation von Frauen in der Kommunalpolitik in Baden-Württemberg ermöglichen. Schicken Sie einfach eine E-Mail an: franziska.dunkel@hdgbw.de. Oder schaut auf: https://www.ohne-unterschied.de/mitmachen/
Die Rednerlisten der Landesdelegiertenversammlungen regelten die Grünen im „Reißverschlussverfahren“: immer abwechselnd mussten ein Mann und eine Frau reden. Die Wortmeldungen wurden in nach Geschlechtern getrennten Behältern gesammelt, die Rednerliste blieb so lange offen, bis genug Frauenstimmen darin waren. Das ermutigte Frauen, öffentlich zu sprechen. Heute sind solche „Tricks“ nicht mehr nötig, es gibt genügend Grüne Frauen (Beispiel württembergischer Landtag: Bei den Grünen sind 47 Prozent Frauen, beim Schlusslicht FDP 8 Prozent).
Kontakt und Adresse
Haus der Geschichte Baden-Württemberg
Konrad-Adenauer-Str. 16
70173 Stuttgart
www.hdgbw.de
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