Ein Gedicht von Hilde Domin, eine Lesung und die GEDOK – eine besondere Beziehung. Ein Beitrag zur Blogparade #femaleheritage.
Ida Dehmel und die GEDOK: Feier zum 150. Geburtstag
In Reutlingen, das größer ist als Böhringen, Zainingen und Gächingen zusammen, gibt es eine Künstlerinnengruppe. Dabei handelt es sich um eine Sektion der überregionalen GEDOK. Was dieser Name im Detail bedeutet, weiß kaum eine der Frauen aus dem Stand aufzusagen. Die Suchende aber stößt auf einen Kreis zumeist – aber nicht nur – älterer Damen, die von ihrem künstlerischen Auftrag ergriffen sind. Und ich kann mich davon nicht ausnehmen.
Nun begab es sich im zurückliegenden Jahr, dass ein Jubiläum es erforderlich machte, sich auf den eigenen Ursprung zu besinnen und die Frauen der ersten Stunde zu feiern. Dies sollte in Form einer Lesung geschehen.
Der Geburtstag von Ida Dehmel (14.1.1870 – 29.9.1942), Gattin des erfolgreichen Blut-und-Boden-Dichters Richard Dehmel, jährte sich zum 150. Mal. Die Frage nach ihrem Mädchennamen[1] wurde vom Gremium im Vorfeld der Lesung als störend empfunden.
Im Dehmelschen Haus also gingen bedeutende Gäste aus der Kunst- und Kulturwelt ein und aus. Und Ida machte es sich zur Aufgabe, die Rechte und die Kunst der Frauen zu fördern und gründete 1926 die GEDOK: die „Gemeinschaft Deutscher und Oesterreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen“.
Auch ich durfte, sollte, wollte und freute mich darauf einen solchen Text vorzulesen. Ein Gedicht von Hilde Domin. Hilde Domin (27.7.1909 – 22.2.2006) war kurze Zeit Mitglied in der GEDOK gewesen.
So wurde mir das Gedicht und den anderen Vorleserinnen überreicht
Ihr Gedicht berührte mich seltsam.
„Kann da ein Schreibfehler sein?“ „…könnte …? …möglicherweise …?“ Strafende Blicke … mir wurde erklärt, das sei moderne Lyrik und für dieselbe charakteristisch, dass sprachliche Strukturen aufgebrochen werden. („Neuigkeiten all überall!“ dachte ich erbost und schwieg meine weiteren Einwürfe: „glauben die (…), dass ich, bloß, weil ich von der Fraktion bildende Kunst bin, auch lyrisch von allen guten Geistern verlassen sei?). Als hätten sie‘s gehört: „Man denke doch nur einmal an Trakl…!“ sagten sie „Ja! eben!“, dachte ich und sagte im Namen des gesunden Selbstzweifels und der gruppalen Harmonie: “ Hm“.
Daheim war ich mit Hilde Domin allein. “Oh Hilde, Du Holde … ist dieser Stuss von Dir?“ „Vielleicht wird nicht verlangt von uns, während wir hier sind, als ein Gesicht leuchten zu machen…“?“
Das Internet verblüffte mich mit Domin-Zitaten auf Tafeln vor Heilbädern und an Yoga-Orten: „Vielleicht sind wir nichts als Schalen, womit der Augenblick geschöpft wird.“
Digital altersschwach internettete ich weiter. „Oha! Das Gedicht – die Regisseurin der Lesung: …“Nein, das Gedicht hat keinen Titel!“ – hieß in Großbuchstaben: “INDISCHER FALTER“ war doppelt so lang und beinhaltete einen alten Mann, der von der Regisseurin kurzum gecancelt wurde. Es war grammatikalisch einwandfrei, weil, längst hat es die Leserin gemerkt, da statt „nicht“ „nichts“ stand.
… kann ja mal untergehen, so ein kleines „s“ … aber der Titel und der alte Mann gleich mit? Was sagst Du dazu, Hilde?!
INDISCHER FALTER Vielleicht sind wir nichts als Schalen womit der Augenblick geschöpft wird. In einem alten Mann der umfällt in Hamburg oder Manhattan stirbt ein Schmetterling die blauen Flügel öffnend - seit dreißig Jahren, in Angkor-Vath. Vielleicht wird nichts verlangt von uns während wir hier sind, als ein Gesicht leuchten zu machen bis es durchsichtig wird. Und das Leuchten dieses einen Gesichts aufzubewahren wie der alte Mann den Glanz seines Indischen Falters. Bis wir hingelegt werden und alles für immer erinnern - oder vergessen. Hilde Domin, Indischer Falter, aus: Hilde Domin, Sämtliche Gedichte, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009, 3. Auflage April 2019
Hoch lebe Hilde Domin! Ich prostete ihr ins Jenseits zu. Da das Über-Ich bekanntlich in Alkohol löslich ist, fand ich mich lustvoll erbost und weil zudem mein Ego vom Rechthaben anschwoll, dachte ich allerlei, was ich hier streiche. Nachdem meine Schadenfreude wieder zur Vernunft gekommen war, fand ich, dass ich nachsichtig sein müsse, wenn ich ihr meinen Befund mitteile, da sich ja keiner gern blamiert. (Wer weiß, in welch exotierischem Ambiente sie ihren Gedichtzipfel erhascht hat.)
Ordentlich mit Quellenangabe, nicht vom Heilbad, und Grüßen, ohne Häme, mailte ich ihr das komplette Gedicht.
Bei der zweiten und letzten Probe stellte die Regisseurin fest: „Es bleibt bei der Fassung, die ausgeteilt wurde.“
Hoch lebe Hilde Domin!
Zusammen mit Hilde Domin, ihrem indischen Falter und dem alten Mann stürzte ich ins höllische Nichts der verhunzten Lyrik.
In den folgenden Tagen sammelte ich Meinungen.
Die wenigsten waren der Ansicht, dass es sich bei Lyrik um Saftstücke von der geistigen Bratenbank handele, aus denen man sich die fett- oder faserarmen Partien in schnabelgerechten Portionen herausschneiden dürfe.
Der Tag des öffentlichen Auftritts war da.
Reutlingen, die alte Reichsstadt, hat auch eine mehrstöckige Buchhandlung und verteilt auf drei Etagen lasen verschiedene GEDOK-Frauen Verschiedenes aus, von und über die GEDOK-Frauen aus der GEDOK-Gründungszeit.
Ich wurde zusammen mit der Regisseurin und einer Kollegin bei der Reise- und Wanderliteratur vor dem Café positioniert. In der Ferne konnte ich den kleinen Tisch für Lyrik erspähen, den die Buchhändler*innen bestückt hatten. Die Wanderer in spe, die erfahren wollten, wo im Odenwald oder auf Mallorca es am schönsten ist, drückten sich verlegen an uns vorbei. Höchst interessiert schaute eine kaffeetrinkende Dame immer zu uns, auch zu mir, offenbar, weil sie eine Bekannte erwartete, denn als die eintraf, wandte sie sich ein für alle Mal sofort von uns ab.
Tapfer lasen wir vor drei Besucherinnen, die zur GEDOK gehörten, unser Programm, und als ich den ganzen INDISCHEN FALTER samt altem Mann vorgetragen habe, beseelt von diesem großartigen Gedicht, schien niemandem etwas aufgefallen zu sein.
So ehrten wir Hilde Domin.
Aber nur wegen dieser Lesung habe ich Hilde Domin und ihren Mann Erwin Walter Palm kennengelernt, die buchstäblich vom Wort und der Sprache lebten (denn auch das erfuhr ich aus den Lesungstexten der Regisseurin (!)) und außer den Beiden etliche andere interessante Frauen mehr.
Fazit: Lieber ein unvollkommenes Erinnern als gar keins!
[1] Er lautet Coblenz und verdankt sich einem alteingesessenen, reichen, jüdischen Elternhaus, das, was die Töchter betraf, konservative Vorstellungen vertrat.