Die Geschichten aus der großen Stadt haben Münchens literarische Szene zu Beginn des 21. Jahrhunderts maßgeblich geprägt. Jetzt werden sie selbst Geschichte: Im Sommer 2023 haben die Initiator*innen Tina Rausch und Bernhard Schneider das Archiv ihrer Lesereihe der Monacensia übergeben. Und Ende November findet bei der von der Monacensia kuratierten Münchner Schiene auf dem Literaturfest München ein einmaliger Erinnerungsabend statt. Tina Rausch beleuchtet die Hintergründe: Wie fing es an mit den Geschichten aus der großen Stadt? Was waren die Highlights? Warum war irgendwann alles vorbei? Welche Geschichten bleiben?
„Pausen und Getränke und Charmantes“
Tina Rausch über die Münchner Lesereihe Geschichten aus der großen Stadt
Danke für den Abend im Kilombo. Er zählt zu den schönsten, die ich als lesender Autor je erlebt habe. Für euer einmaliges Publikum solltet ihr die Reihe unbedingt fortführen, wo auch immer.
Diese Nachricht des Münchner Autors Friedrich Ani erreichte mich per E-Mail im Februar 2007. Wenige Tage zuvor hatten wir mit dem XXIII. Teil unsere Lesereihe Geschichten aus der großen Stadt fulminant beendet: in der (über-)vollen Kneipe Kilombo – mit einem Publikum, das größtenteils stehend weit über zwei Stunden Autor*innen lauschte, von denen einige Gäste zuvor noch nichts gehört geschweige denn gelesen hatten.
Gesehen bei der Literaturandacht „Endlich München“ im Kilombo.
Das schrieb die Süddeutsche Zeitung am 2. Februar 2007 in ihrer Rubrik „Die andere Seite“ unter das Foto der am Tresen hängenden und zuhörenden Menschen (siehe oben). Statt wie sonst meist vier hatten wir diesmal sieben Lesende auf der Bühne, die kurze Texte zum Motto Endlich München lasen:
- Friedrich Ani
- Daniel Grohn
- FX Karl
- Christoph Kastenbauer
- Harriet Köhler
- Richard Oehmann
- Nora Scholz
Dass es der finale Abend sein würde, entschieden wir spontan: Der Wirt Christian Blau hatte uns kurz zuvor eröffnet, dass er das Kilombo schließt. Und an einem anderen Ort als in der damals in der Senftlstraße in Au-Haidhausen beheimateten Kneipe konnten und wollten sich Bernhard Schneider und ich unsere Lesereihe schlichtweg nicht vorstellen. Denn wir hatten die Geschichten aus der großen Stadt von Beginn an als Gesamtkonzept geplant.
Die Lesung als Gesamtkonzept
Wenn ich in den 1990er-Jahren nach Berlin fuhr, war mindestens ein, besser noch zwei Abende fest verplant: für den Besuch einer der damals neu aufgekommenen, sich rasend schnell ausbreitenden Berliner Lesebühnen. Ob Reformbühne Heim & Welt, Die Chaussee der Enthusiasten oder LSD – Liebe statt Drogen, das Konzept einer original Berliner Lesebühne war stets dasselbe:
- eine von Autor*innen selbst organisierte regelmäßige Veranstaltung (wöchentlich / monatlich). Die Autor*innen hatten in der Regel noch nichts veröffentlicht, allenfalls im Selbstverlag
- niedriger Eintritt, oftmals auf freiwilliger Basis
- gemütlicher Ort (Café, Kneipe oder Theater) mit Getränken und Snacks (und damals noch Raucherlaubnis!)
- festes Team ohne Wettbewerbs-Charakter
- teils mit Gastauftritten und/oder offener Bühne
- kurze Texte, max. zehn Minuten
- oftmals kombiniert mit musikalischen Einlagen
Die Schriftstellerin Monika Rinck bringt die Besonderheit des Formats prägnant auf den Punkt:
Die Berliner Lesung: Sie fängt später an, dauert lange, geht danach in etwas über, was manchmal den Namen Tanz verdient hat und manchmal nicht. […] Lesebühnen leben von Episodenbildung, Selbstreferentialität, von Verclusterung von Musik- und zuweilen auch Körpereinsatz. […] Es gibt Pausen und Getränke und Charmantes.1
Ich war begeistert. Ein vergleichsweise kurzweiliges Lesungsformat gab es in München (noch) nicht, abgesehen vom kompetitiven Poetry Slam im Substanz. Die Literatur dort zu Gehör bringen, wo sie entsteht – diese Idee habe ich mit Bernhard Schneider weitergedacht und auf Münchner Bedingungen übertragen.
Da wir anders als die in Berlin Agierenden nicht selbst literarisch schrieben, sondern von der veranstaltenden beziehungsweise journalistischen Seite kamen, galt es, das Konzept abzuändern – und sich Verbündete zu suchen.
- Mit Georg M. Oswald gewannen wir einen Münchner Autor als festen Moderator, der sich über die Jahre fleißig den Ruf erarbeitete, so versiert wie hintersinnig über Bücher zu sprechen, die er nicht unbedingt ganz gelesen hat.
- Der Zündfunk und Bayern 2 begleiteten die Reihe von Anfang an als Kooperationspartner.
- Speziell Münchner Verlage wie C.H.Beck, Deutscher Taschenbuch Verlag, btb oder DVA waren bereit, unser Projekt finanziell zu unterstützen und so am Laufen zu halten. (Die Kooperation mit Verlagen in anderen Städten weitete sich mit zunehmender Bekanntheit der Reihe aus.)
- Mit besagtem Kilombo hatten wir einen auf Münchens literarischer Landkarte noch unerschlossenen Ort etabliert. Durch unsere Lesereihe wurde die Kneipe deutschlandweit bekannt und in der öffentlichen Wahrnehmung fest mit den Geschichten aus der großen Stadt verknüpft.
1. Die Stadt
Am Anfang war das Laut-Phänomen. Zumindest am Anfang der großen Stadt. Falls die Stadt einen Charakter hat, den man beschreiben kann, so ist ihr Charakter, dass sie sich in zahlreichen Varianten ständig selbst erzählt. Denn die Stadt ist eine ungeheure Ansammlung von Geschichten. Mehr nicht.
Viele dieser Geschichten tauchen nie an der kulturellen Oberfläche der großen Stadt auf.
Sie gehen verloren, werden vergessen – oder gar nicht erst gehört.
2. Die Kneipe
Die Bühne des wahren Lebens ist die Öffentlichkeit.
Hier werden Geschichten geboren, erlebt, erzählt, gelesen.
Reale städtische Literatur ist ohne Kneipe nicht denkbar. Der besondere Charme von Lesebühnen, beispielsweise in Berlin, liegt in der (Wieder-)Entdeckung der Reize des urbanen Alltags.2
Jeden einzelnen Geschichten-Abend bewarben wir mit eigens produzierten Flyern, die wir selbst in der Stadt verteilten beziehungsweise auslegten. Mit vier Terminen pro Jahr – plus wenigen Sonderveranstaltungen – setzten wir aufs Prinzip der Verknappung: Wer einen Abend verpasst hatte, konnte nicht vier Wochen später kommen, sondern durfte drei Monate warten. Zudem hielten wir den Eintrittspreis erschwinglich: 10 Mark und damit weniger als eine Kinokarte kostete Teil I Kindheit und Jugend am 31. Oktober 2001 mit fünf Lesenden (darunter der Berliner Lesebühnenautor Jochen Schmidt,der verblüfft war über diesen „für Münchner Verhältnisse doch recht unkonventionellen Leseabend“). Und für Endlich München im Januar 2007 verlangten wir gerade mal 7 Euro.
Die sich wandelnde (Münchner) Literaturszene
Neben der Inspiration aus Berlin kam uns eine zweite Entwicklung zupass: Ab Mitte der 1990er-Jahre erlebte die sogenannte Popliteratur eine Renaissance. Angestoßen 1995 von Christian Kracht mit seinem Debüt „Faserland“ sowie von Benjamin von Stuckrad-Barre mit „Soloalbum“ 1998 und „Livealbum“ 1999, entwickelte sich der Trend hinzu junger deutschsprachiger Literatur. Deren Protagonist*innen verlangten andere Lesungsformate als die damals übliche Wasserglaslesung. Als eher dröge geltend, sprach sie ein eher gesetztes Publikum an. Neue, ungewöhnliche Formate weckten nun auch das Interesse junger, Menschen. Und diese waren nicht zwangsläufig literaturaffin: Eine Kneipen-Lesung stand auf gleicher Stufe wie ein Bar- oder Clubbesuch – mit dem Vorteil, dass erstere kurzweile Unterhaltung verhieß.
Ebendiese Entwicklung war für Verlage hochinteressant. Kracht und von Stuckrad-Barre, aber auch Autorinnen wie Judith Hermann, Alexa Hennig von Lange, Elke Naters, Karen Duve und Julia Franck erreichten nun das junge Publikum, das bislang eher außen vor geblieben war. So waren wir in München nicht die Einzigen, die neue Formate erfanden und erprobten. Mehr oder weniger zeitgleich entstanden:
- Lese- und Clubabende des 2002 gegründeten Verlags Blumenbar
- Bewegungsfreiheit, monatliche Veranstaltungsreihe des Literaturhauses München
- Speak & Spin, zweiwöchentliche Lesereihe im Café Gap
Das waren die Geschichten aus der großen Stadt
Vom Berliner Lesebühnen-Autor Ahne über Lukas Bärfuss, Heike Geißler, Lena Gorelik, Schorsch Kamerun, Richard David Precht, Kathrin Röggla und Barbara Streidlbis hin zu Feridun Zaimoglu: Über hundert Autor*innen aus dem hauptsächlich deutschsprachigen Raum waren zwischen 2001 und 2007 bei den Geschichten aus der großen Stadt zu Gast. Besonders wichtig war uns, dass wir bekannte, weniger bekannte oder auch gänzlich unbekannte Autor*innen stets gleichberechtigt präsentierten. Sie alle lasen kurze Texte oder Romanauszüge, die mal mehr, mal weniger zum Thema des jeweiligen Geschichten-Abends passten, darunter:
- Die Romantik der Straße
- Fremde Welten
- Domstädte: Köln
- Paris, mon amour
- Jetzt noch wilder: der Osten
- Musik ist unser Leben
- We are family
- Schöner scheitern
Die Geschichten aus der großen Stadt auf dem Weg ins Archiv
Zwei prall gefüllte Ordner mit Presseclippings (von Hand kopiert!), sämtliche Flyer der Reihe und ihrer Sonderveranstaltungen lagerten seit 2007 in meinem Keller. Dazu der Geldbeutel, der in der Prä-Smartphone-Zeit als mobiles Büro diente und weit mehr als Münzen barg:
- Spickzettel für die Moderation
- Quittungen
- Visitenkarten
- Zettel mit Telefonnummern
- E-Mail-Adressen für unseren Verteiler
Als Monacensia-Leiterin Anke Buettner Bernhard und mich auf das Archiv der Geschichten aus der großen Stadt ansprach, wollte ich dennoch erst abwinken. Ist so etwas bewahrenswert? Erst als Archivleiter Thomas Schütte nach möglichen digitalen Inhalten fragte, wurde mir klar, dass es hier doch einiges gibt, das nicht verloren gehen und für spätere Forschungen zugänglich gemacht werden sollte:
- Pressemitteilungen
- Korrespondenz mit Verlagen, Autor*innen, Kooperationspartnern
- Verträge
- Konzeptpapiere und Planungsunterlage
- Fotos
Im Juli 2023 haben wir unser Archiv übergeben. Wir sind stolz, dass die Monacensia es als so wertvoll und wichtig erachtet, um es für nachfolgende Generationen zu sichern. Denn mit dieser Übergabe an Münchens literarisches Gedächtnis sind unsere Geschichten nun auch endlich: Geschichte!
Aus dem Nähkästchen der Geschichten aus der großen Stadt
Was bleibt für uns von den Geschichten? Viele bereichernde Begegnungen mit Autor*innen und Protagonist*innen aus dem Literaturbetrieb, die teils bis heute nachhallen. Und ein paar besonders denkwürdige Erlebnisse. So war im Oktober 2006 unter dem Motto Allerlei Leipzig die von Claudius Nießen und Christoph Graebel erfundene Literaturshow Turboprop aus Leipzig zu Gast. Neben Tobias Hülswitt las Clemens Meyer, der im selben Jahr mit seinem Debüt „Als wir träumten“ die Literaturszene elektrisiert hatte. Als er nach der Veranstaltung rauchend, Bier trinkend und laute Reden schwingend vorm Kilombo stand, öffnete sich ein Fenster, und ein Schwall Wasser ergoss sich über den Autor. Clemens war klatschnass – und begeistert: So eine geradezu anarchistische Aktion hätte er München niemals zugetraut!
Etwas weniger begeistert war ein Literaturstar, den bei einem vom Zündfunk live übertragenen Abend zu Gast war. Weil sich unser Moderator Georg ihm exakt so lang – oder kurz – wie den anderen drei Lesenden widmete, fühlte er sich wohl zu wenig wertgeschätzt. Er verschwand wortlos auf der Herrentoilette, harrte die gesamte Pause dort aus und war erst nach Beginn der zweiten Runde unter gutem Zureden bereit, nochmals zu lesen.
Ich erinnere mich gerne an einen langen Spaziergang mit Tim Staffel durchs nächtliche München und an das nahezu unendliche Gespräch mit Feridun Zaimoglu in Bernhards Küche.
Feridun wird auch beim Erinnerungsabend Endlich Geschichte! Die Geschichten aus der großen Stadt auf dem Weg ins Archiv in der Monacensia im November 2023 dabei sein – zusammen mit Lion Christ, Katja Huber und Fabienne Imlinger3. Dazu legt Andreas Neumeister auf. Mal schauen, was die Nachbarschaft diesmal sagt – und in welcher Küche die After-Show-Party steigt.
Lesetipps im MON_Mag
Weitere Artikel zu Bestandsübernahmen ins Literaturarchiv:
- Blumenbar-Archiv und Monacensia: „Der Verlag weiß mehr als seine Verleger!“ (30.11.2022)
- Lillemors Frauenbuchladen: „Wir waren gerne Störenfriede“ – ein Archiv für die Monacensia | #FemaleHeritage (13.9.2023)
Blog-Artikel zur Münchner Schiene:
- Die Münchner Schiene 2023 – Die schönsten Momente (18.12.2023)
- Autor:in werden? Drei Perspektiven – ein Interview mit Anna Gschnitzer, Annegret Liepold und Senka (17.11.2023)
- 20 Tipps für Schreibende: Schreibwerkstätten, Lesereihen und Literaturmagazine in München (10.11.2023)
- Geschichten aus der großen Stadt – Die Lesereihe wird Teil der Stadtgeschichte. Neu im Archiv der Monacensia (1.11.2023)
Blog-Artikel zu Akteur*innen der Münchner Schiene:
- Jan Geiger über erste Schreibversuche, Schreiben als Beruf und Theatertexte (01.12.2023)
- Annegret Liepold über die „Bayerische Akademie des Schreibens“, Schreibprozesse und „Franka“ (26.10.2023)
- Monika Rinck, „Oft geht es eine Treppe hinab, seltener auch eine Treppe hinauf“, in: Auf kurze Distanz – Die Autorenlesung: O-Töne, Geschichten, Ideen, hg. von Thomas Böhm, Tropen, 2003, S. 78–92, hier S. 79 u. 81. ↩︎
- Auszug aus dem Konzeptpapier und der Pressemitteilung zu den Geschichten aus der großen Stadt, Teil I Kindheit und Jugend am 30. Oktober 2001. ↩︎
- Die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Fabienne Imlinger begleitet das kooperative Projekt Female Peace Palace der Münchner Kammerspiele und der Monacensia mit einem eigens produzierten Podcast. Nachzuhören ist dieser hier. ↩︎
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