Die Münchner Autorin Fabienne Imlinger streift durch die 1980er Jahre – in unserer Ausstellung, vor allem aber in ihren Gedanken. Für unsere Artikel-Serie* zu #PopPunkPolitik trifft sie zum ersten Mal auf Rainald Goetz und wandert vom blutigen Phänomen der Popliteratur weiter zu weiblichem Schreiben und (un-)verheilten Wunden. Warum sie sich Goetz als sympathischen Geschichtslehrer vorstellen kann, eine Kunstfigur wie den Raben Perplexum aber eher nicht? Das lest ihr in diesem subkutan wütenden Text.
„Ich habe die Rasierklinge verpasst“ von Fabienne Imlinger
In rereading Virginia Woolf’s A Room of One’s Own for the first time in some years, I was astonished at the sense of effort, of pains taken, of dogged tentativeness, in the tone of that essay. And I recognized that tone. I had heard it often enough, in myself and in other women. It is the tone of a woman almost in touch with her anger (…)
Adrienne Rich, When We Dead Awaken: Writing as Re-Vision, S. 20
Ich habe die Rasierklinge verpasst.
Ich sehe einfach nur einen jungen Typen, dem das Blut aus dem Gesicht tropft. Obwohl, es tropft nicht, es rinnt, plätschert geradezu auf das weiße Blatt, auf dem sich schon eine beeindruckende Pfütze gebildet hat. Der Typ wirkt aufgebracht. Er wackelt heftig mit dem Kopf und vergießt sein Blut. Es sieht ziemlich engagiert aus. Wäre er eine Frau, ich hätte womöglich hysterisch gedacht.
Ich habe die Rasierklinge verpasst.
Doch das kriege ich erst mit, als ich die kleine Tafel neben dem Bildschirm sehe.
Rasierklinge schlitzt Stirn
steht da in Großbuchstaben, die aussehen, als hätte jemand sie eben dorthin gekritzelt. Daneben in Maschinenschrift Rainald Goetz und Bachmannwettbewerb 1983.
Ich habe diesen Auftritt noch nie gesehen. Ich habe Rainald Goetz noch nie gesehen und gelesen auch nicht. Das darf ich natürlich niemandem sagen, besonders nicht meinen Germanistenkollegen mit Popliteratur-Schwerpunkt. Es sind tatsächlich alles Männer, denen ich das nicht sage, weil sie sonst wahrscheinlich denken würden, ich hätte keine Ahnung. Oder, schlimmer, ich wäre uncool.
Auch dass Rainald Goetz und Dietmar Dath in meinem Kopf zu einer Person verschmolzen sind, behalte ich für mich. Wahrscheinlich ist das so wegen der Germanistenkollegen mit Popliteratur-Schwerpunkt, die mir abwechselnd von beiden vorschwärmen. Und von Christian Kracht natürlich. „Hast du schon den neuen Kracht gelesen?“, fragen sie mich, denn sie wissen nicht, dass ich noch nicht mal den alten Kracht gelesen habe.
Ich könnte ihnen von The Chronology of Water erzählen, das auf meinem Nachttisch liegt. Doch dann müsste vermutlich ich ihr Schweigen aushalten. Nicht weil sie dieses Buch nicht kennen, würden sie schweigen. Sondern weil ich über Fehlgeburt sprechen würde und über Trauer. Über Exzess und weibliches Begehren und Inzest. Das sind keine Themen für Germanistenkollegen mit Popliteratur-Schwerpunkt, denke ich, auch wenn sie natürlich den blutigen Rainald Goetz beim Bachmannwettbewerb kennen.
Vor einigen Jahren war ich in einem Theaterstück an den Münchner Kammerspielen. Es ging um Seifenopern und Frauen und Feminismus. So ein Performance-Ding, bei dem du ungemütlich auf deinem Stuhl sitzt, weil die Performerinnen jederzeit die Bühne verlassen könnten, um in den Zuschauerraum vorzudringen.
Am Ende des Stücks fingen die Frauen auf der Bühne an, ihre Unterhosen mit Rasierklingen aufzuschneiden. In den Unterhosen steckten Säcke mit dickflüssigem Kunstblut, das sie aus ihren Unterleibern herausfließen ließen. Wortlos steckten sie ihre Finger in die langsam erschlaffenden Plastiksäcke. Das alles dauerte sehr lange. Die Performerinnen-Beine färbten sich rot und der Bühnenboden färbte sich rot und die Leute verließen reihenweise den Saal.
Ich habe die Rasierklinge verpasst.
Und auch jetzt will ich bleiben bis zum Schluss und darüber hinaus. Jedenfalls bis zur Rasierklinge. Ich setze mir die Kopfhörer auf, und schon schwallen mir die Worte entgegen. Als würdest du versuchen, auf einen vorbeifahrenden Zug aufzuspringen. Bevor ich halbwegs Halt gefunden habe, ruft Rainald Goetz
Ab ins Subito, ihr Arschlöcher!
oder etwas in der Art. Dann lehnt er sich zurück, wischt sich über die sprudelnde Stirn. Seine Hand hinterlässt einen rostroten Streifen, unter dem er erwartungsvoll und ein wenig verdutzt in die Kamera blickt.
Der Bildschirm wird schwarz. Dann sitzt Rainald Goetz wieder unversehrt am Tisch, unblutig und weiß. Sein Look sieht sehr zeitgemäß aus, bis auf das Nietenarmband vielleicht. Jetzt legt er wieder los, aber ich höre nicht richtig zu. Ich warte auf die Rasierklinge, auf das Stirnritzen. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und google Rainald Goetz Narbe.
Rainald Goetz sieht heute aus wie ein sympathischer Geschichtslehrer. Von einer Narbe keine Spur, zumindest im Internet nicht. Ich muss an die Oberarme meiner Studentin denken. Im Sommer haben wir uns zufällig in der Stadt getroffen und uns unbeholfene fünf Minuten lang unterhalten. Aus ihrem T-Shirt lugten weiß die Oberarme hervor, fett und rosarot darauf die Narben. Ich kannte die Narben, kannte auch die Stelle. Ich hätte gerne mit ihr über Unspeakable Things gesprochen, das ich letztes Jahr zum ersten Mal gelesen habe. Stattdessen unterhielten wir uns über das beschissene Wetter. Auch eine Art zu schweigen.
Macht kaputt was euch kaputt macht
Ton Steine Scherben
Diesen Satz habe ich mir allen Ernstes als Jugendliche in mein Tagebuch geschrieben. In Großbuchstaben. Vermutlich sogar mit Ausrufezeichen. Ich hatte keine Ahnung, wer Ton Steine Scherben sind, und gehört habe ich sie auch nicht. Es waren die 1990er in der österreichischen Provinz, aber das ist natürlich keine Ausrede.
Tiefer noch als die Wut saß der Drang, sie an sich selbst auszulassen, und deshalb machten wir vor allem das Naheliegende kaputt: uns selbst. Rasierklinge schlitzt Oberarm, Rasierklinge schlitzt Oberschenkel, Rasierklinge schlitzt egal was, Hauptsache weich und möglichst gut zu verstecken. Punk war das aber nicht. Besser, wir hätten uns ein paar Sicherheitsnadel durch die Wange gezogen. Oder in der Innenstadt gesessen und gesoffen, bis die Polizei kommt.
Bestimmt konnte der Rabe auch ein Lied von der Wut singen. Auf Fotos stiert sie dich mit Blicken an, die Rasierklingen stumpf aussehen lassen. Schneidet Grimassen. Aggressiv und mutwillig die Posen, bisweilen sitzt sie auch still, lauscht, lauert. Die schwarze Maske geht dich selbst hinter Glas noch finster an. Spärliche Sätze legen Zeugnis ab: von einer, die sich mit vollem Einsatz in den Ring warf. Die sich selbst in den Ring warf. Einen Vertrag bei Suhrkamp gab es dafür nicht, aber eine Reihe von Wörtern.
Irre. Schwierig. Anstrengend.
Wörter, die einer das Maul stopfen und sie in der Versenkung verschwinden lassen. Manchmal für immer. Der Rabe nahm sich im Alter von 39 Jahren das Leben. Ich versuche, sie mir als sympathische Geschichtslehrerin vorzustellen.
Ich habe die Rasierklinge verpasst.
Ein weiteres Mal kämpft der junge Rainald Goetz sich durch seinen Text. Wie in Großbuchstaben strömen die Worte aus ihm heraus und die gebleichten Haarspitzen skandieren aufgebracht den Takt dazu.
Ich muss an das SCUM Manifesto denken. Ich google Andy Warhol Narben und finde kunstvoll inszenierte Fotos eines entblößten Männertorsos in Farbe und Schwarz-Weiß. Wie das mit der Zerstückelung der Männer gemeint sei, diese Frage hatte sich nach dem 3. Juni 1968 erst einmal erübrigt. Kunst hat ihre Grenzen. Schlechte Gedichte über Rohypnol gehen. Ein Tritt in den Arsch der Partnerin, weil man arbeiten will? Schwierig, geht aber auch, wenn man von Homer kommt, von Cervantes und von Tolstoi. Nur nicht zu zimperlich. Das Werk rechtfertigt die Mittel.
Auch das SCUM Manifesto hat sich schließlich blendend verkauft. Das Geld scheffelten allerdings andere. Ein Mann namens Maurice Girodias, um genau zu sein. Während die Frau, die auf Andy Warhol schoss, ins Gefängnis ging und mit 52 Jahren allein in einem Obdachlosenheim starb. Erstickt an einem Lungenemphysem.
Habe ich die Rasierklinge verpasst?
Schwenk auf das Publikum. Regungslos sitzen sie da in ihren 1980er-Jahre-Klamotten, Frauen und Männer. Vor der ersten Stuhlreihe sitzen sie sogar auf dem Boden. Schulter an Schulter, Ellenbogen an Knie, Füße im Rücken. Niemand scheint auch nur mit der Wimper zu zucken, und vorne ruft Rainald Goetz erbost:
Ich schneide ein Loch in meinen Kopf!
Schiebt sich die Haare nach oben und fährt sich über die Stirn.
Das ist alles.
Hörtipp – Podcast von Fabienne Imlinger: Ich lese was, was du auch liest
Der Beitrag wird gefördert im Programm:
* Die Artikel-Serie zu #PopPunkPolitik verlängert die Ausstellung in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft Themen der 1980er Jahre aus literarischer und heutiger Perspektive.
Der Beitrag ist Teil von #PopPunkPolitik Vol. 2 – unserem digitalen Programm, das wir auf der Microsite zur Ausstellung in der Übersicht spiegeln. Schaut rein!