Erinnerungen an SAID: „Dieses Tier, das es nicht gibt“ – Sara Gómez

SAID mit Sara Gómez

SAID fehlt, gerade in Zeiten wie diesen. Die Monacensia verwahrt den Nachlass des iranisch-deutschen Lyrikers und Schriftstellers. Die Münchner Autorin Sara Gómez kannte SAID von Kindertagen an. Wir baten sie um ihre ganz persönlichen Erinnerungen an SAID. Einfühlsam bringt sie uns seine Person und sein literarisches Wirken näher zwischen Exil, Tränen und zeitloser, kraftvoller, existenzieller Sprache.

SAID mit Sara Gómez
SAID mit Sara Gómez

Es geht derzeit viel um die Proteste im Iran, endlich auch auf Bundesebene. Unweigerlich, denke ich, fehlt dabei eine Stimme: SAIDs. Die Stimme des Dichters, des politisch (frei) Denkenden, des Menschen im Exil, der gelernt hat, alles mit einer gewissen – teils zärtlichen, teils lakonischen – Distanz zu betrachten. 

Bevor ich Enissa Amani als (politische) Comedienne schätzen lernte und Daniela Sepehri auf Instagram zu folgen begann, war der Iran lange Zeit für mich vor allem das Land, aus dem SAID stammte.

Erinnerungen an SAID von Sara Gómez

Meine früheste Erinnerung an SAID: ein Mann mit rauschendem Bart und rauchendem Mund, der in der Ecke seines Zimmers neben einem Bücherregal steht. Meine Erinnerung stammt aus Kindergartenzeiten und ist schwarz-weiß, weshalb ich nicht weiß, ob sich nicht doch ein Foto in die Erinnerung geschlichen hat. 

Lange bevor SAID mein Schreiben begleitete, war er der „brother in arms“ meines Vaters. Beide fanden in den 1970ern ihr Exil in München. SAID konnte nach der Machtübernahme der Mullahs nie wieder in den Iran zurückkehren. Sein Traum, mit Salman Rushdie einen Kaffee in Teheran zu trinken, hat sich nie erfüllt. Mit meinem Vater hat er viele Kaffees getrunken – der eine ein anerkannter Dichter und Autor, der andere ein Autor, der nicht veröffentlicht. Ein Scherz zwischen den beiden. 

Ein feiner Mensch, einer der Hölderlin verehrt hat und den niemand ohne Hemd und Sakko antraf, wenn er seine Wohnung verließ. Einer, der seine Muttersprache zugunsten der Exilsprache fürs Schreiben aufgab, aber weiterhin auf Persisch rechnete, wie er mir mal erklärte. 

SAID ist dann Anfang meiner Zwanziger zu einem eigenständigen Freund und Mentor geworden: Ich besuchte ihn in seiner Wohnung in Giesing oder wir trafen uns in der Nähe in einem Café. Er nahm sich Zeit für meine Gedichte, mit denen ich an der Universität Hildesheim für den künstlerischen Studiengang Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis aufgenommen worden war und die jahrelang das Fundament meines Schreibens bildeten. Er respektierte ihre Andersheit und versuchte nie, mir einen bestimmten oder anderen Stil aufzudrücken. Er untersuchte sie, wie man Muscheln oder Treibgut am Strand aufsammelt: wertschätzend und bereit, sie ihren Weg zurück ins Meer finden zu lassen. 

Dabei hatten seine Poesie und seine Poetik immer Hand und Fuß. Gern zitierte er sinngemäß Anton Tschechow

Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann muss spätestens im dritten ein Schuss fallen.

2003 sah ich ihn beim Fest der Poesie im Hinterhof des Literaturhaus München, an einem Abend, an dem auch Herta Müller las. Das war Jahre, bevor sie den Literaturnobelpreis bekam, und inspirierte mich später, meine Diplomprüfung über sie abzuhalten. Ich war hingerissen von diesen beiden Persönlichkeiten, die beide so hart zu hadern hatten mit dem Regime ihrer Herkunftsländer und die beide ihren schmerzhaften Erfahrungen so eine kraftvolle Sprache entgegen- beziehungsweise zur Seite stellten. 

Wie gütig / die Passanten sind – / sie sprechen Persisch!

Dann kam die Zeit, in der SAID mir zu verstehen gab, dass ich jetzt auf eigenen Füßen stehen müsse, literarisch gesehen; dass er mir nichts mehr beibringen könne. Wir blieben im Kontakt, etwas spärlicher, aber doch verbunden. 2006 etwa organisierten zwei Freundinnen und ich einen Lyrikworkshop an der Universität Hildesheim, da wir fanden, dass es zu wenig Angebote für dieses Genre an unserem Institut gab. Wir luden Brigitte Oleschinski, Monika Rinck und SAID ein.

SAID sagte uns letztlich ab – doch wir lasen Gedichte aus „Wo ich sterbe ist meine Fremde“, einer der präzisesten und berührendsten Gedichtbände auf deutscher Sprache zum Thema Exil. Das titelgebende Gedicht lautet: 

Geliebte, 
auf diesen Straßen kann ich 
nicht einmal Deine Hand halten. 
Wie verspottet hier 
die Liebe ist. 
Wo ich sterbe 
ist meine Fremde 

Er schrieb es wie den gesamten Gedichtband in den sechs Wochen, die er den Iran besuchte, nachdem der Schah vertrieben war und die Mullahs noch nicht an der Macht.

Egal, wann ich den Band aufschlage, er rührt mich jedes Mal zu Tränen. Meine Ausgabe ist meinem Vater gewidmet: „per Orlando que lo compriende bien“ – in einer Mischung aus Spanisch und Italienisch, in der SAID oft mit meinem Vater, dem Chilenen, sprach, der so wie er wusste, was Exil bedeutet. Wenngleich mit dem großen Unterschied, dass mein Vater in den 1990ern sein Heimatland wieder zu bereisen begann. Die Befremdung, die ihn dreißig Jahre, nachdem er es verlassen hatte, beschlich, war ein Thema, das die beiden besprachen. Oder sich ohne zu sprechen verstanden. 

Widmung von SAID im Gedichtband „Wo ich sterbe ist meine Fremde" an Orlando Gómez „per Orlando que lo compriende bien“.
Widmung von SAID im Gedichtband „Wo ich sterbe ist meine Fremde“ an Orlando Gómez „per Orlando que lo compriende bien“.

SAID hat den Iran nur in jenen Wochen besucht, in denen sich der Regimewechsel vollzog, und danach nie wieder. Selbst das kurze Treffen mit seiner Mutter fand in Kanada statt, auch darüber hat er auf berührendste Art in „Landschaften einer fernen Mutter“ geschrieben. 

Später schenkte mir SAID eine Ausgabe von „Estado de exilio“ von Cristina Peri Rossi, in dem die uruguayische Dichterin den „Zustand des Exils“ beschreibt.
Ich weiß nicht, ob er es ahnte oder einfach für einen guten Gedichtband hielt: Das Thema des Exils verfolgt mich. Noch bin ich dabei, es zu umkreisen in meinen Hörspielen, Erzählungen und Gedichten, doch es ist immer da, glimmt am Horizont. Lieder und Gedichte, die das Thema begleiten, sind Soundtrack meiner Kindheit und Leinwand meines Schreibens geworden. 

„Lass uns den setzen“, widmete mir SAID den Gedichtband in Anspielung auf den Poesiepreis Rafael Alberti, den Perri Rossi erhalten hatte. Er glaubte an mein Schreiben – was, wie viele Schreibende wissen, in harten Zeiten ein Rettungsanker sein kann, um paddelnd weiterzuschreiben. 

Nur Dalai Lama hat mehr auf dem Buckel

Beim Stöbern in meinen Mails finde ich eine von 2014, in der ich SAID schreibe, dass ich im darauffolgenden Jahr gern einen Beitrag fürs Radio über seine 50 Jahre im Münchner Exil machen würde. Er antwortete mir in SAID-Manier: 

liebe sara,
du hast recht.
ich werde dann 50 jahre im exil sein.
nur dalai lama hat mehr auf dem buckel. gerne.
denn wir haben ja ein vertrauensverhältnis. was macht übrigens dein herr papa.
ist er hier?
un abraco grande
SAID
p.s.
kennst du den verlag delta? 

SAID war großzügig – er verschenkte Bücher, lud zum Kaffee oder Wodka ein, vermittelte Kontakte und half aus in praktischen Dingen: Nach einer Trennung vermachte er mir und meinem damaligen Partner sein Bett. Er könne darin nicht mehr gut schlafen, so seine lakonische Erklärung. Also fuhren mein (Ex-)Mann und ich mit meinem Onkel in dessen Passat in der Tegernseer Landstraße vor. SAID öffnete uns im Morgenmantel. Der erste Bohemien, den mein Onkel, ein Chemiker aus Baden-Württemberg, je so nah zu Gesicht bekam. Wir luden das Holzbett in einer abenteuerlichen Konstruktion ins Auto und fuhren zurück. Ein paar Jahre später haben wir es verschenkt oder auf den Sperrmüll gebracht – auch diese Beziehung hielt nicht und musste das Bett wieder loswerden. 

Die Texte von SAID, Herta Müller, Cristina Peri Rossi, meinem Vater, Dorita Puig (die ich in den 2010ern übersetzte) haben mein Schreiben geprägt. Sie sind zeitlos, kraftvoll, existenziell und scheuen sich nicht, unmodern zu sein, beziehungsweise: Sie scheren sich einen feuchten Dreck darum, was gerade „en vogue“ ist. So eine Haltung ist in Zeiten von Selfies und Social-Media-Selbstvermarktung schwer vermittelbar. 

Das Gedicht hat uns durch seinen trockenen Zauber gefallen

In einem Nachruf auf SAID im Magazin Hinterland des Bayerischen Flüchtlingsrates beschreibt Mitherausgeber Matthias Weinzierl, wie es zur jahrelang anhaltenden Gastautorenschaft SAIDs kam. Und wie er SAID kurz vor dessen Tod anrief, um ihn um eine Erklärung zu bitten zu einem kryptischen (seiner Meinung nach missverständlichen) Gedicht, das SAID wie so oft auf einen Call for Papers an Hinterland gesendet hatte. Said reagierte wohl recht wortkarg, um nicht zu sagen unwirsch. Was ich mir bildlich vorstellen kann. Dass er darauf keine Lust hatte. Und auch keine Lust hatte, den Nett-in-die-Kamera-Winkenden zu geben. Aber nicht aus Eitelkeit, er wollte schlicht bei keinem Erklärspiel mitmachen.

Ich glaube nicht, dass SAID sich als Feminist bezeichnet hätte. Aber er war einer der ganz wenigen Männer, die ich kenne, die in der Öffentlichkeit weinen konnten, weil sie etwas so berührte. Das haute mich jedes Mal um, wenn ich es erlebte. Erleben durfte, denke ich jetzt. Wo er so fehlt. Wo ich mich so gerne mit ihm auf einen Kaffee treffen würde, um nicht zuletzt die Lage im Iran zu besprechen. Ich bin mir sicher, er wäre Feuer und Flamme. Und dass er weinen würde. Weinen beim Video des Vaters, der seiner Tochter versprochen hatte, an ihrer Hochzeit zu tanzen; die nun bei den Protesten gestorben ist und an deren Grab der Vater jetzt tanzt. 

SAID würde weinen. Und er würde Texte schreiben und Petitionen unterzeichnen. Er wäre laut auf seine leise, hartnäckige Art. Und ich glaube, er würde diese Hoffnung teilen: Wenn sich Frauen* öffentlich die Haare abschneiden, ist die Veränderung nah. 

Autor*innen-Info

Profilbild Sara Gómez

Dies ist ein Gastbeitrag von Sara Gómez

Sara Gómez (auch Sara Gómez Schüller), 1982 als Deutsche und Chilenin am Ammersee geboren, arbeitet als freie Autorin und Selbstverteidigungstrainerin in München und zeitweise in Chile. Sie hat in Hildesheim studiert, war 2007 Open-Mike- Finalistin, 2015 Preisträgerin des Wartholz Literatur- und Publikumspreises, wurde 2020 mit zwei Hörspielen für den Bayerischen Kunstförderpreis nominiert und ist 2022 Stipendiatin für Junge Kunst und neue Wege. 

Seit 2021 ist sie Teammitglied bei dem feministischen Autor*innen-Kollektiv wepsert. Ihr Gedichtband „geschlachtete Gletscher“ ist im Winter 2021/22 beim Münchner scaneg Verlag erschienen.

Beitrag teilen

Facebook
WhatsApp
X
Pinterest
LinkedIn
Reddit
Email
Print
Facebook

Empfohlene Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Weitere Beiträge

Newsletter

Mit unserem monatlichen Newsletter seid ihr stets über die aktuellen Veranstaltungen, Themen und Artikel aus dem MON_Mag der Monacensia auf dem Laufenden.

Wir freuen uns auf euch!



Anmelden