Emily Carr wurde als „The Mother of Modern Arts“ bezeichnet – anmaßend oder zutreffend? Ihr Außenseitertum scheint dem zu widersprechen, zu Unrecht? Die Künstlerin geriet in Vergessenheit und wird erst allmählich wiederentdeckt. Julia Viehweg zeichnet in ihrem Beitrag zu #femaleheritage den künstlerischen Werdegang Emily Carrs nach.
I don’t fit anywhere, so I’m out of everything and I ache and ache. […] It’s dreadful – like a game of Musical Chairs. I’m always out, never get a seat in time; the music always stops first.
Emily Carr, Hundreds and Thousands. The Journals of an Artist, Toronto 1966, S. 151
– schreibt Emily Carr in einem ihrer Tagebücher. Sie bezieht sich dabei ganz konkret auf das Verhältnis zu ihren Schwestern Lizzie und Alice, aber im weiteren Sinne auch auf ein Gefühl, dass sie ihr ganzes Leben lang begleitete: Das Gefühl, nicht dazuzugehören. Emily Carr ist eine kanadische Künstlerin und Schriftstellerin, die erst in den letzten Jahren langsam wiederentdeckt wurde. Dieses Jahr (und damit fast 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung 1941) erschien anlässlich der Ernennung Kanadas zum Gastland der Frankfurter Buchmesse die erste deutsche Übersetzung ihrer Kurzgeschichtensammlung Klee Wyck – Die, die lacht. Dabei ist Emily Carr eine Frau, die man kennen sollte.
Emily Carr – künstlerischer Werdegang
Emily Carr wurde am 13. Dezember 1871 in Victoria geboren. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern überzeugte sie ihren Vormund, in San Francisco Kunst studieren zu dürfen. Später ging sie nach London und anschließend an die Académie Colarossi in Paris (eine der wenigen Kunsthochschulen, an der damals schon Frauen zum Studium zugelassen waren). Neben den traditionell an den Akademien gelehrten Malweisen lernte sie in Europa den Impressionismus kennen, den Fauvismus und die Anfänge des Kubismus. Erst als sie 1912 dauerhaft nach Kanada zurückkehrte, änderte sich ihr Stil und wurde eigenständiger. Das hing auch mit Kanada zusammen, denn:
- Wie malt man im Winter draußen, wenn es so kalt ist, dass die Farbe in den Tuben gefriert?
- Wie fängt man die dichten Wälder Victorias auf einer Leinwand ein?
- Was ist ein typisch kanadisches Motiv?
Emily Carr hat darauf eine ganz eigene Antwort gefunden. Auf einer Reise in den Norden Kanadas und nach Alaska, die sie 1907 mit ihrer Schwester Alice unternahm, lernte sie die Totempfähle der dort ansässigen indianischen Ureinwohner kennen. Carr war fasziniert von ihrer Materialität, ihrer Rätselhaftigkeit, ihrer Größe – und erschrocken über den desolaten Zustand, in dem sich viele von ihnen befanden. Sie beschloss, alle noch existierenden Totempfähle zeichnen zu wollen, um diese vor dem Verfall und dem Vergessen zu bewahren.
Während der folgenden Jahre unternahm sie zahlreiche Reisen in die Reservate an der Westküste Kanadas und den Haida Gwaii Inseln. Ihre Erlebnisse auf diesen Reisen beschreibt sie in Klee Wyck (in dem sie auch den überheblichen Umgang der Missionare mit den Indianern beschreibt, so dass ihr Buch zunächst zensiert wurde). Dort hält sie fest:
No matter how drunken their tilt, the Haida poles never lost their dignity. The looked sadder, perhaps, when the bowed forward and more stern when they tipped back. They were bleached […] and cracked by the sun, but nothing could make them mean or poor, because the Indians had put strong thought into them and had believed sincerely in what they were trying to express“
Emily Carr, Klee Wyck, Toronto 1941, S. 29
Von ihren Bildern der Totempfähle konnte Carr nicht leben; im Gegenteil, ihre ersten Ausstellungen wurden ein Misserfolg. Sie eröffnete schließlich ein Boardinghouse in ihrer Heimatstadt Victoria, züchtete Hunde und verkaufte Töpferwaren, um finanziell über die Runden zu kommen.
„The Mother of Modern Arts”
Erst gegen Ende der 1920er Jahre änderte sich ihre Situation. 1927 wurde Carr eingeladen, an der Ausstellung Canadian West Coast Art, Native and Modern in der National Gallery of Canada in Ottawa teilzunehmen. Zum ersten Mal konnte sie ihre Bilder einem breiten Publikum präsentieren. Auf der Reise dorthin lernte sie Lawren Harris kennen, ebenfalls Maler, der ihr Freund und Mentor wurde. Harris war Gründer der Group of Seven, einem Zusammenschluss von sieben (männlichen) kanadischen Künstlern, die als Erfinder moderner kanadischer Kunst gelten. Carr, die kein offizielles Mitglied war, nannten sie The Mother of Modern Arts. Ihr war es gelungen, sich von den europäischen Vorbildern zu lösen und eine eigene, moderne Bildsprache zu finden.
Bestärkt durch ihre ersten Erfolge beschloss sie Anfang der 1930er Jahre, ihre Pension zu verkaufen. Von dem Geld legte sie sich einen Wohnwagen zu, den sie Elephant taufte. Sie war mit diesem oft wochenlang alleine in den Wäldern unterwegs, um zu malen. Der dichte Urwald an der kanadischen Westküste löste nun die Totempfähle auf ihren Bildern ab. Besonders häufig malte sie einzelne Bäume, die isoliert von den anderen in den Himmel ragen. Kunst ist für sie immer auch ein Versuch, die Verbindung der Welt mit Gott und ihren eigenen Platz darin zu zeigen. So schreibt sie selbst:
[…] All real art is the eternal seeking to express God, the one substance out of which all things are made“.
Emily Carr, Hundred and Thousands. The Journals of Emily Carr, Vancouver 2006, S. 55
Ab 1937, als es ihr gesundheitlicher Zustand ihr nicht mehr erlaubte, draußen zu malen, wandte sie sich dem Schreiben zu. Auf Klee Wyck folgten sechs weitere, größtenteils autobiographisch inspirierte Bücher. Am 2. März 1945 starb Emily Carr in Victoria.
Außenseiterin in ihrem künstlerischen Schaffen
Emily Carr, die ewige Außenseiterin, durch:
- ihr Frausein in einer männlich dominierten Künstlerwelt,
- ihre räumliche Entfernung von Museen, Galerien und Ausstellungshäusern, die sich vor allem an der Ostküste Kanadas befanden,
- durch die damals unpopuläre Wahl von indianischen Totempfählen und Wäldern als Bildmotiv.
Erfolg hatte sie erst, als sie bereits über 50 war. Bis zu einem gewissen Punkt war dieses Gefühl der Andersartigkeit auch inszeniert, denn
[…] she bolstered her sense of self by cultivating her difference from otheres: from society ladies, intellecutals, critics, the English, and (most odious of all) her lodgers.
Kristina Huneault, I’m not myself at all. Women, Art and Subjectivity in Canada, Montreal 2018, S. 288
Nicht alles an ihrer Kunst ist aus heutiger Sicht unproblematisch. So zeigen uns ihre Bilder zwar das Aussehen der Totempfähle, nicht aber ihre Bedeutung. Auch ihre Mitschuld am Verschwinden der indigenen Bevölkerung und ihren eigenen romantisierenden Blick auf deren Kultur thematisiert Carr nicht. Ihre Landschaftsbilder zeigen vor allem eine menschenleere Natur – doch so unbewohnt, wie es auf den Bildern scheint, war das Land nicht. Dennoch ist Emily Carr eine faszinierende Künstlerin und Schriftstellerin, die maßgeblich dazu beigetragen hat, unser heutiges Bild von Kanada zu prägen und die auch jenseits des Atlantiks die gleiche Aufmerksamkeit wie ihre männlichen Kollegen aus der Group of Seven verdient hat.
Autorin: Julia Viehweg
Julia Viehweg ist Mitarbeiterin der Akademie der Bildenden Künste München.