Stephan Sattler beleuchtet das Leben seines Großonkels Dietrich von Hildebrand (1889–1977), eines eigenwilligen Philosophen mit kompromissloser Haltung gegen den Nationalsozialismus und großer Italienbegeisterung. Ein Beitrag zur Dauerausstellung „Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa“.
Stephan Sattler: Begegnungen mit Dietrich von Hildebrand – Widerstand und Italienliebe
Er war ein streitbarer Philosoph und ein tiefreligiöser Mensch. Seit seiner Emigration in die Vereinigten Staaten 1940 lehrte er an der New Yorker Fordham-Universität. Erleben durfte ich ihn, wenn er ab 1959 bis zu seinem Tod jeden Sommer nach Europa, nach Italien oder Deutschland, kam, seine Verwandten und Freunde besuchte und Vorträge hielt. Über Dietrich von Hildebrand (1889–1977) ist einiges geschrieben worden, wie sein Wikipedia-Eintrag ausweist. Ich beginne mit einer Erinnerung an ihn.
Enthusiasmus für Italien
Meinem Großonkel, jüngstes Kind des Bildhauers Adolf von Hildebrand, jüngerer Bruder meiner Großmutter väterlicherseits, Eva Hildebrand/Sattler, begegnete ich das erste Mal im Jahr 1959 in Rom, damals zwölf Jahre alt. Mein Vater, Kulturattaché an der deutschen Botschaft, hatte mich mitgenommen zu einer Autofahrt in die „Campania“, einer Sonntagsausfahrt in die Umgebung der Tiberstadt. Damit wollte er seinem Onkel eine Freude bereiten, der mit seiner zweiten Frau Alice das erste Mal in die Ewige Stadt gereist war. Was mir auffiel, mein Großonkel aus Amerika begrüßte mich überschwänglich: „Du bist, ja, ein reizender Junge, siehst aus – ganz wie dein Vater.“ Diese Direktheit, obwohl ich ihn doch zuvor noch gar nicht getroffen hatte!
Den Gesprächen über die Weltpolitik, den Papst und das bevorstehende Konzil, die mein Vater mit „Gogo“ führte, wie er seinen Onkel nannte, vermochte ich kaum zu folgen: Plötzlich, ich hatte eher gelangweilt aus dem Seitenfenster geschaut, drehte sich Gogo vom Vordersitz zu mir nach hinten um und meinte barsch:
Stephan, du schaust ja in die ganz falsche Richtung, wo diese hässlichen Neubauten sind. Du musst aber hierher sehen, da, diese wunderbaren Hügelzüge, die Pinien, der Monte Cavo dahinten (er zeigte geradeaus, in Fahrtrichtung). Du musst immer das Schöne suchen, das Hässliche meiden, sonst wirst du blind für die Phänomene, die Sachen selbst“
Ich spürte das Zwingende in seinem Appell, die Zurechtweisung, aber ich wehrte mich nicht dagegen. Später im Philosophiestudium begegnete ich dem Problem, das die Philosophen Max Scheler und Dietrich von Hildebrand mit dem Begriff „Phänomenblindheit“ beschrieben haben: das Problem der Nichtzustimmung. Warum kann oder will jemand das, was man selbst für vernünftig, wahr oder schön hält, nicht einsehen? Die Intervention des Großonkels hatte Folgen, ich versuchte, immer dorthin zu schauen, wo die Campania, sich am schönsten darbot, wie ich meinte. Niemals später habe ich jemand so enthusiastisch über eine Landschaft schwärmen gehört wie Gogo. Sein Entzücken war ansteckend.
Die Hässlichkeiten haben in über sechzig Jahren sicher zugenommen. Dennoch: Wenn ich heute durch Italien, besonders durch die Toskana fahre, muss ich immer noch an das hildebrandsche „Italien, herrlich, zu schön“ denken, diese Fähigkeit, sich vom Zauber einer Landschaft erfassen zu lassen.
Der eigenwillige Philosoph
Es gibt zwei Publikationen, die Dietrich von Hildebrands Lebensweg darstellen. Im Jahr 2000 erschien die Biografie über ihn, die seine zweite Frau
Alice von Hildebrand unter dem emphatischen Titel „The Soul of a Lion: Dietrich von Hildebrand“ veröffentlichte. Sie basiert auf den zeitgeschichtlich nach wie vor spannenden Lebenserinnerungen, die Hildebrand zur rein privaten Lektüre für seine Frau zwischen 1958 und 1963 in deutscher Sprache niederschrieb. An eine Publikation hatte er nie gedacht. Im Jahr 1994 erschienen als Veröffentlichung der Kommission für Zeitgeschichte die „Memoiren und Aufsätze gegen den Nationalsozialismus 1933–1938“. Sie enthalten damals veröffentlichte Aufsätze, aber auch Teile aus seiner persönlichen Niederschrift der betreffenden Jahre, soweit sie von politischer und historischer Bedeutung sind.
Von heute aus betrachtet sind es drei Aspekte im Leben Hildebrands, die mir bemerkenswert erscheinen:
- seine Emanzipation aus einer agnostischen, äußerst bildungsbeflissenen Künstlerfamilie,
- seine Leidenschaft für die Philosophie und
- seine Konversion zur katholischen Kirche.
Alle drei Motive vereinigten sich in einer Persönlichkeit, die auffallend früh gegen den Nationalsozialismus – ab 1921 – kämpfte und seine Verfolgung riskierte, politisches Exil in Österreich fand und schließlich in die Vereinigten Staaten emigrierte.
Sein Vater, der Bildhauer Adolf von Hildebrand, besaß seit Anfang der 1870er-Jahre des 19. Jahrhunderts ein zur Künstlervilla umgestaltetes ehemaliges Kloster, genannt San Francesco di Paolo. Hier wurde Gogo 1889 geboren und wuchs mit fünf älteren, sehr geliebten Schwestern auf. Statt Schul- hatte er Unterricht bei drei begabten Jungwissenschaftlern, die später sehr renommierte Archäologen, Musikwissenschaftler und Pädagogen wurden, Ludwig Curtius, Walter Riezler, Aloys Fischer.
Um die Jahrhundertwende zog die Familie nach München in das Haus in der Maria-Theresia-Straße. Dort wurden die innerfamiliären Diskurse über Dante, Shakespeare, Goethe, da Vinci, Michelangelo, Mozart oder Beethoven noch lebhafter. Gelebte Kunstverehrung! Da fragte der Sohn Dietrich plötzlich seinen Vater:
All diese großen Künstler und ihre Werke, wer kommt der Schönheit am nächsten?
Eine philosophische Frage, die der Vater zu beantworten sich scheute. Allem Absolutismus abhold, gab er zu bedenken, im Besitz der Erkenntnis dessen, was das Schöne an sich ist, sei kein Mensch. Das Absolute oder das Relative? Dietrich ließ die Frage nicht mehr los.
Er beschloss, Philosophie zu studieren an der Münchner Universität. Dort zogen ihn die Professoren an, die später als Phänomenologen in die moderne Philosophiegeschichte eingingen: Theodor Lipps und Alexander Pfänder. Einer, der es ihm vor allen antat, war der Privatdozent Max Scheler. Der meinte, Philosophie sei viel mehr als Erkenntnistheorie, sei Lebensphilosophie, sei Glaube und Wissenschaft in einem, eine Haltung wie bei Platon und Aristoteles, vor allem müsse die Schranke zwischen Religion und Philosophie aufgehoben werden, zugunsten eines integralen Verstehens des Menschseins. Schelers Buch „Vom Ewigen im Menschen“, erschienen 1920, fasst die Gedanken zusammen, die er und Hildebrand zwischen 1908 bis 1920 ventilierten.
Beide entschlossen sich 1914, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, zur Konversion. Die katholische Kirche schien ihnen als die Institution, welche ihrer Sehnsucht nach dem Absoluten, ihrer Wahrheitssucht den besten Halt gab. Während Scheler der katholischen Kirche aber schon nach wenigen Jahren den Rücken kehrte, entwickelte Hildebrand eine unter Menschen, die sich zur Philosophie berufen fühlen, kaum noch anzutreffende Liebe zur Kirche, die für ihn immer auch Liebe zur Wahrheit bedeutete. Höchstens seine Mitkommilitonin Edith Stein, während seiner Studienjahre bei Edmund Husserl in Göttingen, übertraf ihn darin.
Diese Festigkeit im Glauben wurde zur Voraussetzung seiner Wertethik, aber auch seines Weltanschauungskampfes gegen Hitler und dessen Bewegung. Seine Eigenwilligkeit bestand darin, dass er als Konvertit die römische Kirche so haben wollte, wie sie sich seit dem Tridentinischen Konzil konstituiert hatte. Nur Reformen der Liturgie, die ein vertieftes Verstehen und Erleben der Sakramente eröffnete, ließ er zu. Für ihn galt: Die große Freude, Mitglied der Kirche zu sein, muss mitgeteilt werden. Gegenargumente können durch intensive Gefühlsbekundungen, durch Beschwören der Kraft der Liebe überwunden werden. Der Mensch sei nicht nur Vernunft-, sondern auch Affektwesen, wie sein vielleicht bekanntestes Buch „Metaphysik der Gemeinschaft“ (1930) nachzuweisen versucht.
Übergangen und erinnert
In der Habsburger Gasse in Wien ist eine Tafel angebracht mit folgendem Wortlaut:
In diesem Haus lebte von 1933 bis 1938 der Philosoph Dietrich von Hildebrand 1889–1977. Seine Liebe zur Wahrheit führte ihn in die katholische Kirche und in den kompromisslosen Kampf gegen den Nationalsozialismus.
In Deutschland erinnert keine Tafel mehr an ihn. Hildebrand, der zu den wenigen Katholiken in Deutschland gehörte, welche schon gleich nach 1920 gegen Antisemitismus und Rassismus, nationalistischen und kommunistischen Kollektivismus stritten, wird auch von den deutschen Bischöfen heute übergangen. Seine Kompromisslosigkeit gegenüber weltanschaulichen Antagonisten, gegen Fanatiker der Gegenseite, passt nicht zur Bereitschaft zur Koexistenz mit kontroversen politischen oder religiösen Bewegungen.
Hildebrand, ein aus der Zeit gefallener Fundamentalist?
Es gibt eine vitale „Hildebrand Gesellschaft“ mit einem eindrucksvollen Netz an Beziehungen im amerikanischen Katholizismus, immerhin der größten religiösen Denomination in den Staaten. Hildebrands Geist lebt dort fort – in traditionalistischer Form.
Ich habe mich oft gefragt, ob ich je den Kampfgeist, die emotionale Kraft zum Widerstand aufbringen könnte wie mein Großonkel in den Jahren 1920 bis 1945. Seine Philosophie, seine Weltsicht teile ich in vielen Punkten nicht, aber ihn erlebt zu haben, diesen eigenwilligen Spross der Hildebrand-Welt, dieser der Klassik zugewandten Lebensart um 1900, empfinde ich noch heute als Anstoß, dem „Modeton des Zeitalters“ (Kant) nicht zu trauen.