Die Frauen der Boheme trafen sich in Berlin oder Zürich, auf dem Monte Veritá in Ascona oder in München. Wie verzweigt das Netzwerk der Frauen vor allem in den Kaffeehäusern Münchens war und wo man auf sie treffen konnte, wird in der App MunichArtToGo im Stadtraum sichtbar – ein Beitrag des Zentralinstituts für Kunstgeschichte zur Ausstellung #FrauenDerBoheme.
Zentrale Figuren der Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 sind die schriftstellerisch und künstlerisch vielfältig tätigen Frauen Margarete Beutler, Emmy Hennings und Franziska zu Reventlow. Diese und viele andere emanzipierte, fortschrittliche und kreative Frauen bildeten die Münchner Boheme. Sie alle prägten das künstlerisch-literarische Leben in München – vor allem in der Maxvorstadt und in Schwabing.
Die Boheme-Frauen nahmen an (Künstler*innen)-Festen teil, besuchten Malschulen, schrieben oder zeichneten für Zeitschriften wie die „Jugend“ oder den „Simplicissimus“ und schlossen sich in Kabaretts, Gruppen und Vereinigungen zusammen. Regelmäßig verkehrten sie in den vor künstlerischem Austausch pulsierenden Kaffeehäusern, so auch im „Wiener Café Stefanie“.
Mit Kaffeeduft und Absinth im Café Stefanie
Um die Jahrhundertwende bot das Kaffeehaus Avantgardistinnen wie der „Königin der Schwabinger Boheme“ Marietta di Monaco, bürgerlich Maria Kirndörfer (1893-1981), die sich als Modell für Maler und Tänzerin einen Namen machte, eine Plattform für Diskurs, Anregung und Entfaltungsmöglichkeiten aller Art. Ebenfalls als Diseuse (Vortragskünstlerin) tätig und Mitbegründerin der „Elf Scharfrichter“ war Marya Delvard (1874-1965), die auch außerhalb Münchens zu einem bekannten Star des Kabaretts aufstieg.
Viele Künstlerinnen besuchten die Ažbe-Schule, die Damenakademie München oder andere Malschulen wie die „Debschitz-Schule“ oder „Heymannschule“. Hier konnten sie ungezwungener, also im Reformkostüm statt im engen Korsett gekleidet, lernen.
(…) von Professor Nämlich [Anton Ažbe] in der Malschule und noch viel mehr im Café Stephanie durch die täglichen und meistens nächtelangen Diskussionen über Gott und die Welt und das Leben.“
Frank 1963, S. 34
Künstlerinnen, die Kunstschulen und das Kaffeehaus frequentierten, waren Franziska zu Reventlow, Sofie Benz (1884-1911) und ihre Freundin Anna Haag (1888-1982). Des Weiteren verkehrten im Café Stefanie Else Lasker-Schüler, die Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky (1879-1958) oder auch die Malerin Marianne von Werefkin (1860-1938). Die Puppenkünstlerin Lotte Pritzel (1887-1952) erweckte durch ihre knabenhaft zarte Gestalt mit dem Bubikopf den Eindruck eines Pumas, wenn sie das Wiener Café Stefanie betrat, berichtete der Zeitzeuge Erich Mühsam[1]. Ihre Puppen zeugen noch heute vom Lebensgefühl und Zeitgeist der 1910er und 1920er Jahre. Max von Boehn stellte fest:
Die Puppen der Lotte Pritzel haben mehr von der Essenz unserer Zeit als ein ganzer Glaspalast moderner Bilder..
von Boehn 1929, S. 251–254
Das Kaffeehaus diente als Arbeitsstätte, ähnelte einem zweiten Wohnzimmer, und galt als Mittelpunkt geistiger und künstlerischer Gruppierungen sowie emanzipatorischer Bewegungen. Institutionen und Vereine wurden hier gegründet, verselbständigten sich und lösten sich schließlich von den Räumlichkeiten des Kaffeehauses. Um mit Christian Brandtstätter zu sprechen:
Was muß man im Café? Nur sein. Man kann fast alles, aber man muß fast nichts. Das Café ist ein Freiheitsraum.
Brandtstätter 1981, S. 10
Frauen bewegen im Kaffeehaus
Auch das Café Luitpold diente als Treffpunkt der Boheme-Frauen. Karoline „Carry“ Brachvogel trug in ebendiesen Kaffeehausräumlichkeiten 1911 aus „Hebel und die moderne Frau“ Folgendes vor:
Modern sein heißt für die Frau ein eigenes Gesetz in der Brust tragen, dessen Erfüllung ihr vielleicht nicht banales Glück, gewiß aber das höchste Glück der Erdenkinder gewährt: die Persönlichkeit.
Brachvogel 1912, S. 11–12.
Dass die selbstbewussten Frauen als Malerinnen, Schriftstellerinnen, Diseusen oder Puppenspielerinnen interessante Persönlichkeiten waren, steht außer Frage und wird in der Ausstellung in der Monacensia im Hildebrandhaus anschaulich dargestellt.
Die App MunichArtToGo – Auf den Spuren der Bohemiennes
Wer mehr über die Treffpunkte dieser starken Persönlichkeiten und die kulturelle Infrastruktur Münchens erfahren möchte, z. B. über die Künstler*innenausbildungen um 1900, die Künstlerhäuser und Veranstaltungsorte oder die zahlreichen Kaffeehäuser, in denen Melange UND viel Ideenreichtum auf der Karte stand, , braucht nur einen Blick in MunichArtToGo zu werfen.
In der App oder über die Website MunichArtToGo gibt es auf einer interaktiven Stadtkarte eine Vielzahl unterschiedlicher Beiträge zu Münchner Kunst und Kultur zu entdecken – seien es Gebäude, Gemälde, Institutionen oder herausragende Persönlichkeiten, sowie Kunst im öffentlichen Raum.
Dort sind Artikel verschiedener Verfasser*innen und Bildergalerien aus den Beständen der Photothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte zu finden. Diese decken ein breites Themenspektrum ab. Nutzt auch gerne die zusammenhängenden Touren, um die Stadt unter einem bestimmten Thema zu erkunden.
Die Tour zur Münchner Boheme mit Beiträgen zum „Wiener Café Stefanie“, zum „Fotoatelier Elvira“ oder zur „Ažbe-Schule“ eignet sich hervorragend, um nach dem Besuch der Ausstellung in der Monacensia bei einem Stadtspaziergang den Wirkungs- und Schaffensstätten der Frauen der Boheme nachzuspüren und vor Ort die eigenen Eindrücke zu ergänzen und zu vertiefen.
Einladung zum Mitschreiben bei MunichArtToGo
Die Sonderausstellung #FrauenDerBoheme in der Monacensia endet am 14. Januar, aber das Online-Magazin mon_boheme und die App MunichArtToGo bleiben. Mit ihnen kann man weiterhin in die Zeit der Boheme eintauchen.
Und wer weiß, vielleicht regt das die eine oder den anderen dazu an, sich mit dem eigenen städtischen Umfeld und seiner Geschichte auseinanderzusetzen und einen Text für die App zu verfassen – sei es zur Boheme oder zu anderen kunst-, architektur- und stadtgeschichtlichen Themen und Orten,: unsere Einladung zum Mitmachen!
MunichArtToGo kann ähnlich wie das Café Stefanie verstanden werden: als Plattform für Entfaltungsmöglichkeiten. Interessierte können sich einbringen und einem breiten Publikum den Zugang zu Kunst und Kultur und den damit verbundenen Institutionen ermöglichen. Auch das Münchner Stadt- und Literaturarchiv haben mit ihren Beständen schon verschiedene Artikel in MunichArtToGo mit Informationen und Quellen unterstützt.
Die Bestände der Bibliothek und der Photothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte können für Recherchen und eigene Beiträge eingesehen, genutzt und mit anderen Quellen verbunden und ergänzt werden. Also: ab in die Monacensia zur Ausstellung #FrauenDerBoheme oder einen Blick in die App MunichArtToGo werfen und selbst kreativ werden!
Autorinnen: Alexandra Avrutina, Eva Blüml, Hannah Rathschlag
#MunichArtToGo
Zentralinstitut für Kunstgeschichte
Katharina-von-Bora-Straße 10
80333 Muenchen
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Eva Blüml, M. A. studierte Kunstgeschichte in München und Santiago de Compostela. Seit 2021 arbeitet sie am Zentralinstitut für Kunstgeschichte, unter anderem am App-Projekt MunichArtToGo. Neben ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin promoviert sie zu Diagrammen in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Instagram: @eb.bildkunst
Hannah Rathschlag, 1998 geboren, studierte Klassische Archäologie im Master an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und schreibt aktuell ihre Masterarbeit in Kunstgeschichte. Sie ist als wissenschaftliche Hilfskraft in der Photothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte tätig. Instagram: @honey.hanni.honey
Alexandra Avrutina hat ihr Master-Studium in Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München absolviert. Sie beschäftigt sich mit systemischen Gegebenheiten der Universität, surrealistischen Tendenzen und städtischer Kunst- und Kulturgeschichte. Instagram: @soupwitheyes
Literatur:
- Boehn, Max von: Puppen, München 1929
- Brachvogel, Carry: Hebbel und die moderne Frau, München 1912
- Brandstätter, Christian: Das Wiener Kaffeehaus, 1. Aufl., München 1981
- Brixel, Petra: „Sophie lebte heute noch … und wir wären glücklich!« Der Schriftsteller Leonhard Frank und die Malerin Sofie Benz – eine Liebesbeziehung im Lichte alter Briefe und des Romans Links wo das Herz ist, in: https://www.gusto-graeser.info/Monteverita/Personen/BenzSofie.pdf
- Erlöserkirche München-Schwabing (Hrsg.), Altmann, Persönlichkeiten im alten Schwabing, München 2000
- Frank, Leonhard: Links wo das Herz ist, 4. Aufl.von 1984, München 1963
- Heise, Ulla: Kaffee und Kaffeehaus – Die Geschichte des Kaffees, 1. Aufl. 1996, Frankfurt 2002
- Hympendahl, Johanna: Café Stefanie, in: Bäumler, Klaus; Fromm, Waldemar; Oelke, Harry; Schuler, Hubert (Hrsg.): Die Maxvorstadt. Historische Betrachtungen zu einem KulturViertel, München 2015, S. 51-52
- Online-Webseite der Mühsam-Tagebücher, unter: https://www.muehsam-tagebuch.de/tb/index.php
- Reventlow, Franziska zu: Herrn Dames Aufzeichnungen – Oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, Wiesbaden 2014 (Erstveröffentlichung 1913).
- Ruederer, Josef: München, München 1907
- Segieth, Clelia: Paul Segieth: kleine Kollektion Café Stefanie – Münchner Impressionen; Broschüre Ausst., Tutzing am Starnberger See, Galerie am Rathaus in, o.O. 2006
- Stern, Ernst: Cafe Größenwahn – Karikaturenfolge, Dortmund 1980
[1] Bauer 2000, S. 192.