Was leistete der „Arbeitskreis 20. Juli“ ab 1954 gegen das Vergessen der nationalsozialistischen Gräueltaten? Was hat das mit der Erschließung des Nachlasses von Eric Peschler und einer Veranstaltung in den Münchner Kammerspielen zu tun?
Der Nachlass Peschler und der „Arbeitskreis 20. Juli“
Zwischen zwei Aufführungsankündigungen von Samuel Becketts Schauspiel „Warten auf Godot“ auf einem Plakat der Münchner Kammerspiele des Jahres 1954, sahen interessierte Passant*innen auch den Hinweis auf einen Vortragsabend zur „Deutschen Vergesslichkeit“: Am späten Abend des 13. Mai 1954 sprachen zahlreiche Schriftsteller, Publizisten und Vertreter der Münchner Universitäten über diese „Vergesslichkeit“. Dies geschah mit einem deutlichen Appell gegen das Vergessen und für das Erinnern und Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus, an den antinazistischen Widerstand und seine Opfer.
Völlig unerwartet entdeckten wir das Plakat bei der Erschließung des bislang unbearbeiteten Nachlasses des freien Autors und Journalisten Eric Peschler (1922–2005). Korrespondenzen, Ausweisdokumente, Fotos und Zeitungsausschnitte deuten fragmentarisch auf ein engagiertes Leben hin. Umso mehr lohnt es sich, bei der Erschließung dieses Nachlasses über die grundlegenden Bestandskategorien – Briefe, Dokumente, Manuskripte – hinaus, eine inhaltliche und lebensgeschichtliche Gliederung vorzunehmen.
So finden sich im Nachlass Peschler auch Dokumente, die auf die historischen Kontexte und Netzwerke verweisen, in denen er agierte. Mitgliederlisten, Pressemitteilungen, Protokolle und Redemanuskripte, die Peschler zeitlebens aufbewahrt hat, geben nun Aufschluss über ein Kapitel Münchner Stadtgeschichte im Jahr 1954.[1]
Der „Arbeitskreis 20. Juli“ und seine prominenten Mitglieder
Hinter der Veranstaltung in den Kammerspielen steht der „Arbeitskreis 20. Juli“, der sich im Februar desselben Jahres erstmals traf. Ihm gehörten im Laufe seines Bestehens unter anderem an:
- die Schriftsteller Erich Kästner und Hans Werner Richter,
- der spätere Programmdirektor des Bayerischen Rundfunks Walter von Cube,
- die Stadträtin und Landtagsabgeordnete Hildegard Hamm-Brücher,
- der Historiker Alexander Graf Schenk von Stauffenberg sowie
- zahlreiche weitere Vertreter*innen der Münchner Presse- und Universitätslandschaft.
Die organisatorische Initiative zur Gründung ging jedoch kurz zuvor, im Januar, von dem vor diesem Hintergrund prominenter Namen eher unbekannten Peschler aus. In einem Einladungsentwurf für ein erstes Treffen der Gruppe beschreibt er Motivation und Vorhaben des geplanten Arbeitskreises:
Der Geist der Freiheit, der die Männer des 20. Juli befähigte, sich gegen den Terror zu erheben, droht in unserer Zeit der fortschreitenden Restauration in Vergessenheit zu geraten. Ihn gegen jede Bedrohung der Unabhängigkeit des Geistes durch Mucker- und Spießertum, Stehkragennationalismus und die Allmacht der Organisationen, der Parteien und Bürokratien wachzuhalten, muss unsere Aufgabe bleiben.[2]
Geschichte des Gedenkens
Im ersten Nachkriegsjahrzehnt waren in den Behörden und Parteien der Bundesrepublik noch einige ehemalige NSDAP-Mitglieder sowie Anhänger*innen und Begünstigte der NS-Diktatur vertreten und toleriert; Erinnerungspolitik und öffentliches Gedenken an die Opfer und den Widerstand gegen das Regime steckten noch in den Kinderschuhen.[3] Um den zehnten Jahrestag des 20. Juli 1944 über das Jahr 1954 hinaus in das gesellschaftliche Bewusstsein zu rücken, konstituierte sich der „Arbeitskreis 20. Juli“. Seine Mitglieder organisierten sich in verschiedenen Arbeitsgruppen. Sie widmeten sich unter anderem der Zusammenarbeit mit Theatern, Verlagen und Buchhandlungen, Kinos, Schulen und Volkshochschulen.
Die Veranstaltung in den Kammerspielen am 13. Mai war der Auftakt zu einer Reihe weiterer Vortragsabende und Aktionen des Arbeitskreises. Dazu gehörten:
- ein großer Festakt am 20. Juli 1954 im Herkulessaal der Münchner Residenz,
- eine Sondersendung des Bayerischen Rundfunks zum 20. Juli und
- die Herausgabe einer Sonderbriefmarke zu diesem Anlass.
Aber schon die erste Veranstaltung Mitte Mai fand großes Interesse.
Öffentliche Auftaktveranstaltung des „Arbeitskreises 20. Juli“ in den Kammerspielen
Am 13. Mai ab 23 Uhr lauschten interessierte Münchner*innen 13 Mitgliedern des Arbeitskreises. Die Schauspielerin Maria Wimmer, die den Kammerspielen und dem Residenztheater angehörte, las im Verlauf des Abends aus persönlichen Briefen von Opfern des Nationalsozialismus und Widerständler*innen vor. Darunter befanden sich neben den damals schon bekannten Namen des militärischen Widerstands vom 20. Juli 1944 auch die von Wimmer vorgetragenen Zeugnisse
- des Jesuiten Alfred Delp,
- des Berliner Studenten Horst Heilmann,
- des Bauern Josef Hufnagel und
- einer anonymen Jüdin.[4]
Die Besucher*innen der Veranstaltung wurden so mit bisher weniger bekannten Schicksalen des Widerstands vertraut gemacht. Maria Wimmer las vor allem aus Abschiedsbriefen. Sie gewährte den Zuhörer*innen so einen emotionalen Einblick in die Gedanken der zum Tode verurteilten Opfer des Nationalsozialismus. In dem Bewusstsein, dass sein widerständiges Handeln etwas Gutes und moralisch Richtiges war, schrieb beispielsweise der Student Heilmann aus dem Gefängnis an seine Eltern:
Ich sehe nichts Tragisches in meinem Ende […]. Ich habe den erhabenen Trost, daß es nicht schlecht enden kann, weil wir den Zusammenhang des Ganzen nicht kennen. […] Ich sterbe stark und sicher.[5]
Von der deutschen Vergesslichkeit …
Die weiteren Referenten des Abends rahmten die persönlichen Erfahrungen der Widerständler*innen durch ihre Worte ein. Zur Eröffnung sprach der Intendant des Hauses Hans Schweikart. Er betonte dabei die große Bedeutung des Erinnerns und die Gefahr des Vergessens,
[d]enn allzu leicht sind wir versucht […], die Flucht vor einer Verantwortung anzutreten, von der allein erfüllt wir unserem Mit- und Nebeneinander einen Sinn geben können.[6]
Verantwortung und Sinn machte Erich Kästner in seiner Rede im Rahmen des aktiven Gedenkens aus:
Hat man versucht, diese Männer und Frauen in unserer vorbildarmen Zeit zu dem zu machen, was sie sind? Zu Vorbildern?[7]
… und wider die trägen Herzen
Aus dem Tätigkeitsbericht des Arbeitskreises, den Erich Peschler im November 1954 zum Jahresabschluss verfasste, geht hervor, dass die Mahnungen Erich Kästners Gehör gefunden hatten: Die Veranstaltung war gut besucht, über 3.000 Einladungen und Flyer waren im Vorfeld in der ganzen Stadt verteilt und verschickt worden. Landesweit berichteten Zeitungen über den Vortragsabend. Aber nicht nur in den Zeitungen wurden die Reden zitiert, sondern auch in der einen Monat später erschienenen Broschüre „Wider die trägen Herzen“.
Das Heft fasst alle Reden des Abends und die von Maria Wimmer vorgetranenen Briefe zusammen und versammelt weitere Literaturhinweise zur Geschichte des Widerstands. 10.000 Exemplare wurden an bayerische Schulen und andere öffentliche Einrichtungen verteilt. Weitere 10.000 Exemplare wurden schließlich in der gesamten Bundesrepublik in den Umlauf gebracht.[8]
Heute ist das Gedenken an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus sicherlich vielfältiger und würdigt einen noch größeren Kreis an Widerständler*innen. Wo die Militärs des 20. Juli vor allem den Sturz Hitler beabsichtigten, agierten auch Zivilist*innen aus den unterschiedlichsten zivilgesellschaftlichen, politischen und religiösen Zusammenhängen gegen die NS-Herrschaft und ihre mörderische Ideologie. Frühe Initiativen wie der Münchner „Arbeitskreis 20. Juli“ und die zu ihm im Nachlass von Eric Peschler erhaltenen Dokumente geben einen Einblick, wie Gedenken und Erinnern in den ersten Nachkriegsjahren gestaltet wurden – so auch an einem späten Abend des Jahres 1954 in den Münchner Kammerspielen.
[1] Sämtliche Quellen anhand welcher Geschichte und Mitglieder des Arbeitskreises nachvollzogen werden können, finden sich in der Monacensia im Nachlass Eric Peschler unter den Signaturen ErP D 43 und 44, ErP M 3 und ErP B 23. Vor allem aber wurde der von Eric Peschler verfasste Tätigkeitsbericht herangezogen: Peschler, Eric: „Tätigkeitsbericht“, 09.11.1954, Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, ErP D 43.
[2] Peschler, Eric: „Entwurf der Einladung für die 1. Vorbesprechung“, o. S., Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, ErP D 43.
[3] Zur Geschichte des Erinnerns an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und dessen Rezeption nach 1945 siehe beispielsweise mit weiteren Literaturhinweisen Tuchel, Johannes/Albert, Julia: Die Wahrnehmung des Widerstands nach 1945, in Informationen zur politischen Bildung 330 (2016), URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/widerstand-gegen-den-nationalsozialismus-330/232811/die-wahrnehmung-des-widerstands-nach-1945/.
[4] Vgl. Arbeitskreis 20. Juli (Hg.): Wider die trägen Herzen. Zur zehnjährigen Wiederkehr des 20. Juli 1944, München 1954, S. 4–8.
[5] Ebd., S. 8.
[6] Ebd., S. 9.
[7] Ebd., S. 18.
[8] Vgl. Peschler: „Tätigkeitsbericht“, S. 1–2, 3, 4.