Weshalb war Christa Reinig als lesbisch lebende und schreibende Schriftstellerin und Feministin eine mehrfache Außenseiterin am Rande des männlich dominierten Literaturbetriebs? Und warum ist sie trotz zahlreicher Ehrungen heute weitgehend vergessen? Das analysiert Nicole Seifert für #femaleheritage. Die Literaturwissenschaftlerin bloggt über Literatur von Frauen und beschäftigt sich mit der Geschlechter(un)gerechtigkeit in der deutschen Literatur. Sie setzt in ihrem Beitrag die Werke Reinigs ins Verhältnis zum verinnerlichten Männerblick im Literaturbetrieb.
„Wer hat Angst vor Christa Reinig?“ von Nicole Seifert
Lebensweg einer Schriftstellerin
Mein Leben ist gepflastert mit Ideologien, durch die ich hindurch musste wie durch die Masern.[1]
Als Christa Reinig dies sagte, war sie sechzig Jahre alt und lebte seit über zwanzig Jahren als Autorin in München. Geboren war sie 1926 während der Weimarer Republik im Osten Berlins als uneheliche Tochter einer Putzfrau. Dort hatte sie die Machtübernahme der Nazis erlebt sowie als Neunzehnjährige das Ende des Terrorregimes. Nach dem Krieg arbeitete sie als Trümmerfrau und in einer Fabrik, in den Fünfzigerjahren holte sie in der DDR das Abitur nach und studierte Kunstgeschichte.
Mit dem Schreiben begann Christa Reinig schon als junge Frau: Sie debütierte Ende der Vierzigerjahre in der satirischen DDR-Zeitschrift „Ulenspiegel“ und erhielt in ihrem Land bereits 1951 Publikationsverbot. Mit der „Ballade vom blutigen Bomme“, die Walter Höllerer in seiner Anthologie Transit vorstellte, machte sie 1956 auch im Westen Deutschlands auf sich aufmerksam. In den folgenden Jahren erschienen dort einige Gedicht- und Erzählungsbände von ihr.
Christa Reinigs Leben war jedoch nicht nur durch staatliche Ideologien geprägt, durch Nationalsozialismus und sozialistische Diktatur, sondern auch durch einschneidende Veränderungen und Milieuwechsel. Nach dem Tod ihrer Mutter, mit der sie zusammengelebt hatte, nutzte sie 1964 die Verleihung des Bremer Literaturpreises, um im Westen zu bleiben. Dort fand sie bald große Anerkennung, erhielt das Stipendium der Villa Massimo und kurz darauf den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Ein Treppensturz mit anschließender falscher Behandlung machte sie mit fünfundvierzig Jahren zur Schwerbehinderten.
Nach ihrem Unfall debütierte Christa Reinig 1975 mit ihrem autobiografischen Schelminnenroman „Die himmlische und die irdische Geometrie“. Ein Jahr später folgte „Entmannung“. Diesen Roman bezeichnete Reinig als ihren „Weg in die Frauenbewegung“ und vollzog mit ihm zugleich literarisch ihr Coming-out. In ihm verband sie, wie Madeleine Marti schrieb, „eine kunstvolle Einfachheit der Sprache mit einer komplexen Formgebung“ und brachte damit „ihre radikalfeministische Position in aller Deutlichkeit zum Ausdruck“.[2]
Das Phänomen der geteilten Reinig
Mit ihrem Bekenntnis zur Homosexualität und der Hinwendung zum Feminismus stand Christa Reinig unter den anerkannten Autorinnen, die schon lange vor der Frauenbewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre publiziert hatten, im deutschen Literaturbetrieb allein da. Als Schriftstellerin und lesbische Frau bewegte sie sich als mehrfache Außenseiterin am Rande einer Männerwelt. In der Rezeption war in der Folge das „Phänomen der geteilten Reinig“[3] zu beobachten:
- Feministinnen setzen sich mit Christa Reinigs Texten seit ihrem zweiten Roman Entmannung auseinander,
- das Feuilleton dagegen bis zu diesem Roman.
Christa Reinig resignierte jedoch nicht, sondern entwickelte „Mut und Kraft, Dinge zu benennen, Masken abzulegen, Gedanken konsequent weiterzudenken und sich selbst und andere nicht zu schonen“.[4]
Aber ich bin lesbische Schriftstellerin, so gut wie ich weibliche Schriftstellerin bin, das ist eine Entwicklung.[5]
In der Einleitung ihrer Monografie „Hinterlegte Botschaften“ erläutert Madeleine Marti, dass Literatur im Patriarchat wesentlich beiträgt zu
- der Propagierung von Heterosexualität,
- dem Verschweigen und
- der Entstellung lesbischer Liebe.[6]
Lesbische Frauen verstoßen mit ihrer Entscheidung für Liebesbeziehungen mit Frauen fundamental gegen Ideologie und Praxis der patriarchalen Gesellschaft. Das gilt umso mehr, wenn sie darüber schreiben – was deshalb immer auch ein Moment des Widerstands gegen gesellschaftliche Diskriminierung und Stigmatisierung lesbischer Frauen ist.
Das doppelte Problem für Schriftstellerinnen
Der kulturell dominierende männliche Blick auf Frauen erzeugt auf doppelte Weise Probleme für Schriftstellerinnen:
- Sie sind von Frauenbildern umgeben, die von Männern gemacht wurden, und haben sich zwangsläufig an ihnen geschult.
- Ihre Werke werden auch von Männern beurteilt.
Lesbische Autorinnen waren dieser Verinnerlichung des Männerblicks vor der Frauenbewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre in besonderer Weise ausgesetzt, weil sie eine traditionelle Frauenrolle ablehnten, ohne dass emanzipatorische Alternativen umsetzbar gewesen wären.
Manchmal erschien daher die Identifikation mit einem männlichen Ich als einzige Möglichkeit, lesbisches Erleben auszudrücken. Die extremste Form der Verinnerlichung des männlichen Blicks sind männliche Protagonisten, ist der männliche Ich-Erzähler – und sei es zur Tarnung.
Von der männlichen zur weiblichen Perspektive
Anhand von Reinigs Texten ist zu beobachten, wie eine Autorin innerhalb von dreißig Jahren den Prozess der schrittweisen Befreiung aus männlicher Perspektive hin zu einer weiblichen vollzieht.[7]
Die Formen und Formeln der Dichtersprache sind nicht geschaffen, dass ein weibliches Ich sich darin artikulieren kann.[8]
So formulierte Christa Reinig es 1976, nachdem sie lange Zeit männliche Erzählpositionen bezogen hatte. In ihrer Erzählung „Drei Schiffe“ beispielsweise verlegte sie das Geschehen in eine reine Männerwelt, wie sie in Abenteuergeschichten präsentiert wird. Ohne den Hinweis der Autorin wäre nicht zu entschlüsseln, dass den Ausgangspunkt der Erzählung verwickelte lesbische Beziehungsgeschichten bildeten.[9]
Zwar schrieb Reinig in den Fünfzigerjahren, in denen lesbische Frauen als abnorm galten und gesellschaftlich verschwiegen wurden, Gedichte mit lesbischer Thematik. In ihrer Prosa schuf sie jedoch über zwanzig Jahre lang keinen Raum für Protagonistinnen und Ich-Erzählerinnen oder gar für lesbische Figuren.
In ihren Prosatexten vollzog Reinig die Vermännlichung im Unterschied zur Lyrik vollständig. Erst im Erzählungsband „Die ewige Schule“ werden Männer zu (meist bedrohlichen) Randfiguren und lesbische Frauen zu den Protagonistinnen – ein Thema, das bis dahin in der deutschsprachigen Literatur nicht existierte. Im Roman „Entmannung“ dann kritisiert Reinig das Patriarchat mit den Mitteln von Satire und Groteske scharf, in „Die Frau im Brunnen“ erzählt sie schließlich die Liebesgeschichte zweier älterer Frauen. Die Kreisbewegung, die diese Erzählung vollzieht, sowie Bezüge auf Märchen und Mythen lassen die geschilderte Beziehung zeitlos erscheinen, die zugleich jedoch in der Gegenwart der Achtzigerjahre verankert wird.
Christa Reinigs literarisch produktivste Zeit
Von Mitte der Siebziger- bis Mitte der Achtzigerjahre, als Reinig sich zur Frauenbewegung zählte, war sie literarisch am produktivsten. Sie schrieb
- drei Romane,
- zwei Erzählungsbände,
- einen Lyrikband sowie
- zahlreiche Artikel und Gedichte.
Vom männlich dominierten Literaturbetrieb wurde Reinig als Folge ihrer feministischen Positionsbestimmung marginalisiert. Ihre Texte wurden weniger rezensiert als zuvor und kaum noch mit Preisen bedacht. Sie wurden ignoriert oder boykottiert – genau wie die Texte anderer Schriftstellerinnen, die in ihrer Literatur in emanzipatorischer Weise lesbische Liebe zur Sprache brachten. Auch Frauenverlage wie Orlanda oder Frauenoffensive, wo Reinig publizierte, wurden vom patriarchalen Literaturbetrieb ausgegrenzt.[10] Nachdem sich Reinig Ende der Achtzigerjahre aus der Frauenbewegung zurückzog, veröffentlichte sie vier weitere Erzählungsbände und erhielt drei Literaturpreise.
Christa Reinigs Texte lesen sich heute inhaltlich wie ästhetisch hochinteressant. Ihre Stimme ist scharf und humorvoll, einzigartig und gewichtig. Trotzdem – oder deshalb? – ist sie inzwischen fast vergessen. 2011 forderte Lena Vandrey eine Biografie von Christa Reinig und Übersetzungen ihres Werks. Ihre Frage, warum das nicht längst geschehen sei, beantwortete sie gleich selbst:
Ich halte Christa Reinig, nach wie vor, für eine der besten Erscheinungen des weiblichen Denkens und eben deshalb ausgeklammert.[11]
Dieser Beitrag wird gefördert von:
Quellen:
- Christa Reinig auf Fembio.org, https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/christa-reinig/ (Abruf: 31. Januar 2022).
- Madeleine Marti, Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart: Metzler 1992.
- Christa Reinig, „Das weibliche Ich“ in: Frauenoffensive Journal Nr. 5, 1976, S. 50/51.
- „Erkennen, was die Rettung ist – Christa Reinig im Gespräch mit Marie-Luise Gansberg und Mechthild Beerlage“, 1986, http://www.planetlyrik.de/wp-content/uploads/2015/03/Christa-Reinig-Erkennen-was-die-Rettung-ist.pdf
(Abruf: 31. Januar 2022). - Lena Vandrey, „Christa Reinig oder der Kopf-Stand. Eine Anekdotenbiographie“, 2011, https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie_extra/christa-reinig/ (Abruf: 31. Januar 2022).
Lest auch unseren weiteren Gastbeitrag über Christa Reinig zu #femaleheritage im Blog:
- Ariane Rüdiger: Was wir erinnern, was wir vergessen – Überlegungen zur Erinnerung an Frauen (14.12.2020)
[1] „Erkennen, was die Rettung ist – Christa Reinig im Gespräch mit Marie-Luise Gansberg und Mechthild Beerlage“, 1986.
[2] Madeleine Marti, Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart: Metzler 1992, S. 308f.
[3] Ebd. S. 309.
[4] Ebd. S. 316.
[5] Vgl. FN 1.
[6] Marti, S. 7.
[7] Vgl. Marti, S. 25f und S. 318.
[8] Christa Reinig, „Das weibliche Ich“ in: Frauenoffensive Journal Nr. 5, 1976, S. 50/51.
[9] Marti, S. 329f.
[10] Marti, S. 132.
[11] Lena Vandrey, „Christa Reinig oder der Kopf-Stand. Eine Anekdotenbiographie“, 2011.