Was für eine grandiose Idee – ein Brief an Dagmar Nick! Darin werden Werdegang und literarisches Werk der Münchner Autorin in einer lebendigen und beeindruckenden Art und Weise angesprochen. Birgit Donhauser von der Münchner Stadtbibliothek Neuhausen schreibt Dagmar Nick einen Brief für die Blogparade #femaleheritage.
Liebe Frau Nick,
warum sind Sie mir literarisch eigentlich erst jetzt begegnet?
Immer wieder lese ich, dass Sie neben Rose Ausländer und Ingeborg Bachmann zu den wichtigsten deutschen Lyrikerinnen nach 1945 zählen. Während ich diese beiden Namen noch aus dem Deutschunterricht kenne („Sei was du bist, gib was du hast.“ und „Nichts mehr wird kommen.“) ist mir Ihr Name aus der Schule überhaupt nicht geläufig.
„Gedichte passieren“, so haben Sie einmal gesagt, sie sind „Ventile“ für das, was Sie loswerden möchten. Es lohnt sich zunächst also, Ihr Leben ein wenig näher anzusehen.
Sie sind behütet aufgewachsen in einem musischen Haus. Ihre Mutter, Kaete, geborene Jaenicke, (familiär Katja genannt), war Konzertsängerin und es machte einen starken Eindruck auf mich, als ich las, dass sie die Verlobung mit dem Dirigenten Hans Knappertsbusch auflöste, weil der ihr sagte, dass ihre Karriere als Sängerin nach der Hochzeit selbstverständlich beendet sei. Wie selbstbewusst musste man sein, um 1914 so eine Entscheidung zu treffen! Und dann gab es da den Vater Dr. Edmund Nick, promovierter Jurist, Konzertpianist, Kapellmeister, Musikalischer Leiter des Senders Breslau, Komponist und Musikkritiker. Ihre Eltern heirateten 1920.
Ihr Vater und Ihre Mutter waren beide erfolgreich: „Edmund Nick verdiente nicht schlecht. Aber Katja verdiente mit Konzerten und durch ihre (Gesangs-)Schülerinnen wesentlich mehr.“ In diese fortschrittliche Ehe wurde 1922 in Breslau Ihr Bruder Anselm geboren. Sie folgten am 30. Mai 1926 und wurden benannt nach einer Krankenschwester, die Ihre Mutter im Ersten Weltkrieg rührend gepflegt hatte, als diese im Jahr 1917 an Diphtherie erkrankt war – nach ihrem Einsatz als Sängerin beim Fronttheater zur Truppenbetreuung deutscher Soldaten in Belgien. Damals schwor Ihre Mutter sich:
Sollte ich jemals lebend dieses Lazarett verlassen und wieder singen können, werde ich meine Tochter, falls mir eine geschenkt würde, Dagmar nennen.
Ihre Kindheit war geprägt von Poesie, Musik und von Kindermädchen – da Katja und Edmund beruflich viel unterwegs waren – und eines der Mädchen brachte die Tuberkulose in den Haushalt der Familie Nick, die sowohl Anselm als später auch Sie befiel.
Ohne Parteibuch musste Ihr Vater 1933 den Sender Radio Breslau verlassen und auch Ihre Mutter wurde als Halbjüdin aus der Kulturkammer ausgeschlossen. Was macht es mit einem, wenn die Eltern – nach Hausdurchsuchungen der Geheimen Staatspolizei – untertauchen und die beiden Kinder monatelang bei einer befreundeten Familie verstecken, ohne Kontakt zu haben? Die Finanzlage wurde eng, Vater und Mutter wurden 1934 von der Gestapo verhaftet und einen halben Tag lang verhört: „Und beim Heimkommen mittags öffnete niemand die Tür. Abgeholt. Zwei Stunden eiskalte Panik auf der obersten Treppenstufe im vierten Stock – bis die Eltern heraufkommen mit ganz ernsten grauen Gesichtern.“
Sie waren als sogenannter ‚Mischling zweiten Grades‘ von den neuen Gesetzen gegen Juden betroffen. Sie wussten, was ‚Abgeholt werden‘ bedeutet. Sie erlebten den Krieg.
Sie schrieben in „Alles über Katja“ über Ihre Mutter, dass sie von diesem Zeitpunkt an nur noch aus Angst bestand:
Angst, ihrem Mann wegen ihrer Abstammung beruflich zu schaden. Angst, es könnte ihm etwas passieren, er könnte plötzlich abgeholt werden. Ohne ihn wäre sie als Halbjüdin völlig ungeschützt. Angst, mit Nicki ins Theater zu gehen, was den ‚Mischlingen 1. Grades‘ verboten ist. Angst, um ihre Tochter, die wochenlang im Krankenhaus liegt und kein Arzt zu sagen weiß, ob die Siebzehnjährige die Sepsis unbekannter Genese (später die Tuberkulose) überleben wird. Angst, ob ihre jüdisch verheiratete Schwester noch rechtzeitig das rettende Affidavit erhalten wird, um auszuwandern. Angst, als sie miterlebt, wie ihre jüdischen Cousinen von den Nazischergen abgeholt werden, um – was man freilich später erst erfährt – in Treblinka in einer Gaskammer zu enden. Angst, wenn Nicki bei einem Fliegerangriff nachts auf dem Dachboden nach nicht explodierten Brandbomben sucht, was für ihn als Luftschutzwart Pflicht war. Angst, als der zum Militär eingezogene Anselm an die russische Front geschickt wird, in die Schlacht um Charkow, und endlos lange keine Post von ihm kommt. Angst, zum Lungenarzt zu gehen: er könnte bei ihr die Tuberkulose diagnostizieren, die sie längst in die sich trägt; es hätte sie ja, als Mischling, kein Sanatorium aufnehmen dürfen!
Im Dezember 1943 wurden Sie in Berlin ausgebombt und lebten mit Ihren Eltern für ein Jahr in Böhmen. Im Februar 1945 flohen Sie von dort vor der näher rückenden russischen Front nach Bayern – fünf Tage und vier Nächte lang traumatische Erlebnisse. In München druckte Erich Kästner im Oktober 1945 in der ersten Nummer der Münchner ‚Neuen Zeitung‘ als „Hoffnungszeichen für die Fruchtbarkeit junger Talente“ Ihr Gedicht „Flucht“ ab.
Flucht Weiter. Weiter. Drüben schreit ein Kind. Laß es liegen, es ist halb zerrissen. Häuser schwanken müde wie Kulissen durch den Wind. Irgendjemand legt mir seine Hand in die meine, zieht mich fort und zittert. Sein Gesicht ist wie Papier zerknittert, unbekannt. Ob du auch so um dein Leben bangst? Alles andre ist schon fortgegeben. Ach, ich habe nichts mehr, kaum ein Leben, nur noch Angst.
Trotz dieser ersten Erfolge war die Lyrik aber nie Ihr Hauptstandbein, Sie haben in München Graphologie und Psychologie studiert und jahrelang dann auch als Graphologin gearbeitet.
Ihr Bruder Anselm gilt seit 1945 als vermisst. Ihre Mutter starb 1967 an einem Herzinfarkt, Ihr Vater 1974. Drei Ehemänner haben Ihr Leben begleitet, vier Jahre haben Sie in Israel gelebt, bevor Sie zurück nach München kamen.
„Ich habe immer nur dann Gedichte geschrieben, wenn ich von irgendeinem Thema gebeutelt wurde, und letztlich waren es die gleichen Themen“ – Liebe und Abschied, Altern, Vergänglichkeit und Umweltzerstörung.
Neben der Lyrik haben Sie aber auch Hörspiele, Erzählungen und Bücher über Israel, Rhodos, Sizilien und die Götterinseln der Ägäis verfasst.
Gerade die Erzählung „Wir oder der Empfang des Dichters“ ist mir sehr ans Herz gewachsen, werden doch die gesammelten Peinlichkeiten einer Lesung ganz aus der Sicht des organisierenden Vereins beschrieben. Ich hoffe, Ihnen ist nie Ähnliches passiert oder Sie haben es – wenn doch – mit genau dem scharfen Humor genommen, der auch in dieser Erzählung steckt.
Und dann gibt es da noch Ihr jüdisches Familienbuch „Eingefangene Schatten“, in dem Sie vierzehn Generationen Ihrer Familiengeschichte recherchiert haben und so unendlich viel über jüdisches Leben in Deutschland mitteilen. Das Aufspüren dieser Lebensgeschichten war unglaublich viel Arbeit, Sie recherchierten fünf und schrieben über drei Jahre lang bis zu zehn Stunden täglich daran: „Ich war irgendwie besoffen von der Arbeit.“ Auch das, dieses sich Hineinversenken, dieses Wissenwollen und Dranbleiben, hat mir sehr imponiert.
In der Münchner Monacensia bin ich in Ihrem Vorlass auf eine Notiz auf dem Programmzettel der Jahrestagung der Stiftung Kulturwerk Schlesien in Himmelspforten bei Würzburg gestoßen. Dort haben Sie aus Ihren Werken gelesen und dazu handschriftlich in Rot geschrieben: „Die größte Lese-Blamage meines Lebens!“ und mit Bleistift ergänzt: „(Chaos durch Verliebtsein…)“ Ich weiß nicht, was an diesem Abend alles schief gegangen ist, ich fand diese Anmerkung nur ungeheuer sympathisch und zutiefst menschlich.
Aussicht
Der weiße Fleck
auf meiner Landkarte:
das bist du. Eine Insel.
Kein Ausweg.
Die Schwärze, die jenseits
des letzten denkbaren Sterns
mich verschlingen wird,
bist du auch, und
die Implosion meines Herzens
kurz vor dem jüngsten Gericht.
Welch eine Aussicht.
Das ist es insgesamt, was Sie vor allem mit Ihrer Lyrik für mich ausmachen: Menschlichkeit und Einfachheit im positiven Sinn. Und auch Ihre Bescheidenheit, nie das Rampenlicht zu suchen – obwohl Sie eine eigene Stimme und viel mitzuteilen haben. „Sie seien eben völlig ehrgeizlos“, so begründen Sie Ihre Bescheidenheit.
Liebe Frau Nick, ich hoffe, dass noch viele Menschen auf Ihre Lyrik und Ihre Texte treffen und darin Halt finden. Bleiben Sie weiterhin gesund und neugierig auf das Leben und darauf „wie alles weitergeht“!
Es grüßt Sie herzlich
Birgit Donhauser, Münchner Stadtbibliothek Neuhausen
Mein großer Dank geht an Dagmar Nick!
Danke für die Unterstützung auch an:
- Katja Jakob, Literaturarchiv der Monacensia München
- Nicki Nikolic, Literaturarchiv der Monacensia München
- Theresia Prasch
Der Brief passt gut zum Podcast auf „Leichtigkeit der Kunst“ zu:
Dagmar Nick lebt in München Neuhausen.
Dagmar Nicks Gedichte erschienen in über 250 Anthologien im In- und Ausland, sie ist eine der wichtigsten deutschsprachigen Lyrikerinnen nach 1945. Ihr umfangreiches Werk wurde mit mehreren Literaturpreisen geehrt.
Literaturverzeichnis:
Dagmar Nick:
- Abtrünniges Herz, Babel, 2018
- Alles über Katja (meine Mutter), Münchner Stadtbibliothek / Monacensia,
Signatur DN D 5, undatiert - Dokumente, Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, Signatur DN D 4, undatiert
- Eingefangene Schatten – Mein jüdisches Familienbuch, C.H. Beck, 2015
- Im freien Fall, Rimbaud Verlagsgesellschaft 2016
- Im Stillstand der Stunden, Rimbaud, 1991
- Sizilien – Landschaft und Geschichte der Zyklopeninsel, Gustav Lübbe, 1989
- Wir oder der Empfang des Dichters, Marburger Kreis, 1975
Sekundärliteratur:
- www.poetenladen.de/dagmar-nick.htm
- www.kath-akademie-bayern.de/dokumentation/audios/dagmar-nick.html
- www.kulturportal-west-ost.eu/biographien/nick-dagmar-2
- www.swr.de/swr2/literatur/nachtwache-und-flucht-von-dagmar-nick-100.html
- www.literaturportal-bayern.de/journal?task=lpbblog.default&id=2001
- www.lesenwertk.de/autorenportrait/nick.htm
- www.deutschlandfunkkultur.de/lyrikerin-dagmar-nick-gedichte-kann-ich-nicht-machen.970.de.html?dram:article_id=358785
- KLG: Dagmar Nick
- Munzinger Personen: Dagmar Nick
- „Innere Bewegung“ – Süddeutsche Zeitung vom 28.5.2016
- „Die Gärtnerin des Stammbaums“ – Süddeutsche Zeitung vom 12.12.2015