Boheme heute: Solidarität mit schreibenden Frauen und Müttern im Literaturbetrieb? Eine Reihe des Literaturhauses Berlin zu #FrauenDerBoheme

„Frei leben?!“, Veranstaltung vom 31. August 2022 zu „Boheme heute" mit Anke Stelling, Jessica Jurassica und Ilka Piepgras. Foto: Literaturhaus Berlin. #FrauenDerBoheme

Das Literaturhaus Berlin – Kooperationspartner der Monacensia zur Ausstellung #FrauenDerBoheme* – veranstaltete im Sommer drei Abende zum Thema „Boheme heute“ im Literaturbetrieb. Janina Enderle resümiert die Reihe mit Blick auf Geburtsszenen im Literaturkanon, Lebens- und Arbeitsbedingungen von schreibenden Frauen und Müttern, Streitkultur feministischer Positionen und die Frage nach der Solidarität im Literaturbetrieb. Was bedeutet es heute, ein freies Leben als Autorin zu führen?

Aus persönlicher und Veranstalter*innensicht greift Janina Enderle Punkte der Diskussionen der Veranstaltungsreihe auf – die Themen:

  1. Writing with care / writing with rage“ (7.7.) mit Maren Wurster, Caca Savic und Teresa Bücker
  2. Die Schwarze Botin“ (18.8.) mit Ginka Steinwachs, Eva Meyer, Rita Bischof und Vojin Saša Vukadinović
  3. Frei leben?!“ (31.8.) mit Anke Stelling, Jessica Jurassica und Ilka Piepgras
„Frei leben?!“, Veranstaltung vom 31. August 2022 zu „Boheme heute" mit Anke Stelling, Jessica Jurassica und Ilka Piepgras. Foto: Literaturhaus Berlin. #FrauenDerBoheme
„Frei leben?!“, Veranstaltung vom 31. August 2022 zu „Boheme heute“ mit Anke Stelling, Jessica Jurassica und Ilka Piepgras. Foto: Literaturhaus Berlin. #FrauenDerBoheme

„Boheme heute“ – Frauen und Mütter im Literaturbetrieb

In welchem modernen Roman wird eigentlich eine Geburtsszene erzählt? So richtig realistisch, mit Wehen und Plazenta? Und: aus Perspektive der gebärenden Frau? Diese Fragen kamen in einer an eine Lesung anschließenden Diskussion auf, die ich im Literaturhaus Berlin organisieren durfte. Die Veranstaltung war Teil einer Reihe, in der es um die Frauen der Boheme von heute ging, um Themen wie Unabhängigkeit, Mutterschaft oder Avantgarde im heutigen Literaturbetrieb. Grübelnde Gesichter im Saal und auf der Bühne. 

Der deutschsprachige Literaturkanon ist zwar gespickt mit Geburtsszenen, angefangen bei Goethes „Dichtung und Wahrheit“ bis zu Günter Grass‘ „Blechtrommel“, doch sie haben meistens die Funktion, den Protagonisten – als Baby – einzuführen. Zudem sind die meist besonderen Geburtsumstände bereits ein Zeichen für die Besonderheit des Kindes – auf die Mütter beziehen sie sich nicht.[1]

Wenn ich auf Motiv- und Themenlücken im Literaturkanon hinweise, dann geht es mir nicht um Moral. Die braucht gute Literatur nicht. Es geht mir darum, dass Literatur als offener Kunst- und Experimentierraum nur davon profitieren kann, wenn es vielen Menschen möglich ist, daran teilzuhaben. Selbst Franziska zu Reventlow, Emmy Hennings oder Margarete Beutler schrieben die meisten Romane, Erzählungen, Gedichte erst nach ihrer wilden Boheme-Zeit in relativer Sicherheit.  

„Writing with care / writing with rage" - Veranstaltung „Boheme heute" vom 7. Juli 2022 mit Maren Wurster,Caca Savic und Teresa Bücker. Foto: Literaturhaus Berlin. #FrauenDerBoheme
„Writing with care / writing with rage“ – Veranstaltung „Boheme heute“ vom 7. Juli 2022 mit Maren Wurster,Caca Savic und Teresa Bücker. Foto: Literaturhaus Berlin. #FrauenDerBoheme

„Writing with care / writing with rage“ – Leben- und Arbeitsbedingungen in der Literaturszene

Kunst entsteht durch Arbeit. Deshalb ist es nicht trivial, sich um Arbeitsbedingungen zu bemühen, die nicht nur der einen Hälfte der Bevölkerung, der „der Rücken freigehalten wird“, zu schreiben erlauben (oder dem einen Prozent, das wohlhabend genug ist). 

In den letzten Jahren – auch durch Corona – wuchsen glücklicherweise das Bewusstsein und die öffentliche Aufmerksamkeit um die Relevanz von guten Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Literaturszene. So schlossen sich Autorinnen (und Autoren) zu Gruppen wie Other Writers Need to Concentrate oder Writing with CARE / RAGE zusammen. Sie möchten eine Öffentlichkeit für schreibende Mütter herstellen und dem Vorurteil entgegentreten, dass Elternschaft etwas sei, was eine Künstlerin nicht könne, so Caca Savic [bei der Veranstaltung]. Viel wichtiger aber sei noch, dafür auch Strukturen zu schaffen bzw. die bestehenden Strukturen zu verändern. 

Da geht es zum einen um Förderstrukturen und Aufenthaltsstipendien. „Other writers need to concentrate“ sollte keine akzeptable Begründung sein, um Kinder nicht zu einem Aufenthaltsstipendium mitnehmen zu dürfen.[2]  Es geht jedoch auch um Lesungen und Literaturveranstaltungen. Was ist mit den Kindern während Veranstaltungen, die meist am Abend stattfinden? Eine Frage, die Veranstalter*innen tangiert, was – full disclosure – auch mich trotz meiner theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema in der Praxis unvorbereitet getroffen hat. So hat sich schlussendlich ein Kind während einer Lesung mit Harry Potter und Gameboy im Büro selbst beschäftigt. Im Gespräch mit den Autorinnen wird klar, dass es bis jetzt kaum Angebote vonseiten der Veranstalter*innen gab, beispielsweise einen Babysitter zu bezuschussen.

Obwohl der gesamte Literaturbetrieb schon lange von Frauen geprägt ist, ist er auch heute nicht frei von Misogynie. Bestimmte Topoi werden implizit oder explizit als Frauenliteratur abgetan, Rezensenten verhalten sich nicht immer professionell. Sie besprechen schnell mal die Person anstatt des Texts. Die Autorin Jessica Jurassica, die der dörflichen Enge mithilfe eines Pseudonyms und durch die Anonymität einer Sturmmaske entkam (die, wie sie meint, in der Zwischenzeit jedoch auch wieder genügend Projektionsfläche bietet), berichtet an jenem Abend von einem besonders blumigen Beispiel. 

Allerdings scheint es auch keine Alternative zu sein, sich völlig von der Gesellschaft abzuschotten. Angelehnt an die Überlegungen von Anke Stelling, dass die Schriftstellerei zwar eine „asoziale“ Tätigkeit sei, da man dafür die Abgeschiedenheit brauche, das Schreiben allerdings auch als „Zugriff auf Welt“ nur von der Außenwelt profitieren könne: je mehr Zugriff und je mehr Erfahrung und Erleben desto reicher der Stoff und die Möglichkeiten im Schreiben.  

„Die Schwarze Botin“ – Avantgarde statt Gefühlsduselei

Geht man ein bisschen in die Vergangenheit, quasi auf halbem Weg zu unseren Boheme-Frauen, trifft man auf eine feministische Publikation, die wohl an Vielstimmigkeit und Streitlust ihresgleichen sucht – die Zeitschrift „Die Schwarze Botin“, die zwischen 1976 und 1987 in West-Berlin erschien. Ursprünglich herausgegeben von Gabriele Göttle und Brigitte Claasen und in loser Zusammenarbeit mit Autorinnen, Philosophinnen und Künstlerinnen wie 

  • Rita Bischof, 
  • Elfriede Jelinek, 
  • Ursula Krechel, 
  • Julia Kristeva,
  • Elisabeth Lenk, 
  • Eva Meyer, 
  • Sarah Schumann, 
  • Ginka Steinwachs, 
  • Gisela von Wysocki und vielen mehr. 

An einem Abend im August erzählen Rita Bischof, Eva Meyer und Ginka Steinwachs im Literaturhaus Berlin von geräucherten Austern und Krokodilfleisch aus der Dose, viel Alkohol und mindestens einer üppigen Obstschale als kulinarische Beigabe der sagenumwobenen Redaktionssitzungen, die keine waren. Das trug zum Boheme-Ruf der schwarzen Botinnen bei und brachte ein wenig Zusammenhalt in eine Gruppe mit sonst nur losen Verbindungen ohne Verpflichtungen. 

Frauensolidarität um jeden Preis war ihre Sache nicht. Avantgarde statt Gefühlsduselei, gegen ein falsches Bewusstsein, das sie in einer strickenden, heimeligen Version eines intellektuell unterfordernden Feminismus ebenso wie in den Machogebaren linker Männer ausmachten. Zu heutigen Debatten um gendern und „lifestyle feminismus“ würden die schwarzen Botinnen wohl entgegnen, equal pay helfe mehr gegen soziale Ungerechtigkeit als Sprachkonventionen. 

Der Unterschied zu heute wird in der Diskussion mit dem Publikum – im Großen Saal saßen an jenem Abend auch viele Frauen, die Teil der West-Berliner feministischen Szene der 1970er waren – unter anderem daran festgemacht, dass zwar damals auch erbittert gestritten wurde, aber doch immerhin die Publikationen aller „Fraktionen“ gelesen wurden. Das erste Ende der Zeitschrift und das Wiederaufnehmen ein paar Jahre später ohne das Wissen geschweige denn der Zustimmung einer der Gründerinnen zeigt auch, wie fragil und explosiv solche Zusammenschlüsse sein können. 

Fazit zur Reihe #FrauenDerBoheme: Freies Leben als Autorin

Nach drei Abenden stellen sich mir vermeintliche Selbstverständlichkeiten neu in den Vordergrund. Es ist mir als Organisatorin viel stärker aufgefallen, wie viele wichtige Parameter des Literaturbetriebs bei einer Lesung zusammenkommen. Ein freies Leben als Autorin kann einiges bedeuten:

  • die Freiheit, sich Zeit für das Schreiben allein nehmen zu können, 
  • die Freiheit, sich zusammenzuschließen, um für diese Möglichkeiten zu kämpfen. 

Ein Ausloten zwischen Sicherheit, Freiheit, Einsamkeit, Kollektiv, Öffentlichkeit und Schutzraum, Streit und Solidarität findet auch bei uns auf der Bühne statt. 

Durch die Auseinandersetzung mit der Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 fällt mir übrigens doch eine Geburts-Erzählung ein: „Das Tränenhaus“ (1908) von Gabriele Reuter. Sie, eine Schriftstellerin der Münchner und Berliner Boheme und heute fast vergessen, hat darin die soziale Realität beschrieben, in die Frauen in einer Einrichtung für unehelich Schwangere geraten. Dort, diskret und fernab der Familien, bringen die Frauen ihre Kinder zur Welt unter hygienisch fragwürdigen Bedingungen und unter der Obhut einer mitleidslosen und geizigen Hebamme, die nicht viel von ihren Klientinnen hält. Die Protagonistin des Romans gebärt dort selbst. Der Moment der Geburt wird durch das erlösende Betäubungsmittel im „tiefes Dunkel“ ausgespart. Jedoch beschreibt sie die Tortur der Wehen zwischen Todeswunsch und Lebensdrang

Ob dies der Tod war, der in ihrem armen Leibe wütete –? Nun – so würde sie ihm widerstehen! Sie erhob sich, sie stand in der dunklen Nacht ihm Auge in Auge gegenüber, die Hände geballt, jede Muskel gespannt – jede Kraft der Seele und des Willens hell wach – zum äußersten Kampfe gerichtet … Sie wollte ihr Kind nicht allein lassen! Sie wollte es küssen und an ihrem Herzen halten – sie wollte leben – leben – leben! Und die Qualen stiegen – stiegen – stiegen – bis alles in ihr und um sie nur noch wie eine wirbelnde Hölle war. Die Uffenbacher war zurückgekehrt, hatte alle wilden Zukunftswünsche vergessen, fragte nicht mehr nach Mittag- und Veschperbrot, stand wie ein Soldat in der Schlacht, tapfer, geduldig und brav. Ein fremder Mann erschien neben Corneliens Bett, sprach mit dem Dr. Schwärzle und sagte, er werde am Abend wiederkommen. Am Abend –? würde es da noch nicht vorüber sein? Sie wollte nicht mehr leben – sie flehte nur noch, daß man sie töten möge – daß man doch Barmherzigkeit haben und ein Ende machen möge! Und dann waren Stunden, wo sie überhaupt nichts mehr von sich und ihrer Umgebung wußte. Plötzlich hörte sie einen Angstruf, der nicht aus ihrem Munde kam: Und eine fremde Stimme sagte: ‚Jetzt ist es Zeit.‘ Etwas wurde über ihr Gesicht gelegt, sie atmete einen süßlichen, fremden Duft – murmelte Zahlen – und sank erlöst in ein tiefes Dunkel, wie in die göttliche Ruhe der Vernichtung. Nach einer langen Weile tauchten aus dem Dunkel Stimmen auf, die klangen wie hinter vielen schwarzen Schleiern, welche den Schall bis zu einem fernen Murmeln dämpften. Sie hatte die Empfindung, daß sie die Augen öffnen möchte und es doch nicht könnte. Und aus diesem Dunkel, aus diesem Murmeln und Bewegen um sie her, löste sich eine Stimme, die sagte heller und lauter, dicht in ihrem Ohr: ‚Es ischt ein Mädele! Fräulein Cornelie, ein Mädele ischt’s!‘[3]

Literaturhaus Berlin 

Literaturhaus Berlin. Foto: Phil Dera
Literaturhaus Berlin. Foto: Phil Dera

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Erstmals kooperierten zwei weitere Kulturhäuser anlässlich einer Ausstellung mit uns: für #FrauenDerBoheme das Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF) mit Dossiers und Artikeln sowie das Literaturhaus Berlin mit einer Veranstaltungsreihe vor Ort und im Netz. 


[1] Vgl. auch: Stefanie Stockhorst: Schwangerschaft und Geburt in der „schönen“ Literatur. Überlegungen zum Funktionswandel eines Motivs. In: John Pustejovsky/Jaqueline Vansant (Hg.): „Wenn sie das Wort Ich gebraucht“. Festschrift für Barbara Becker-Cantarino. Amsterdam/New York 2013 (Chloe; Beihefte zum Daphnis, Bd. 47), S. 41–71.
[2] Vgl. https://other-writers.de/ueber-uns/
[3] Gabriele Reuter: Das Tränenhaus. Roman [1908]. Neubearb. Aufl., Berlin 1926, S. 129. 


* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.

Autor*innen-Info

Profilbild Janina Enderle

Dies ist ein Gastbeitrag von Janina Enderle

Janina Enderle, in Stuttgart geboren, lebt seit 2016 in Berlin, wo sie ihren Master an der Humboldt-Universität zu Berlin in deutscher Literatur mit einer Masterarbeit zu Literaturausstellungen abschließt. Sie arbeitete bei verschiedenen Projekten des Literaturhaus Berlins mit, wie der Ausstellung „Happy in Berlin?“ 2021 und dem „Festival der Kooperationen mit Alexander Kluge and Friends“ 2021, und kuratierte dort 2022 die Veranstaltungsreihe „Boheme heute“. Foto: © privat.

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