Pädagogik und Erziehung im Nationalsozialismus: SCHOOL FOR BARBARIANS (2/2) | #ErikaMann

School for Barbarians, Erika Mann über die Pädagogik und Erziehung im Nationalsozialismus.Blick in die Erika Mann-Ausstellung.

Im ersten Teil von „School for Barbarians“ schrieb Prof. Dr. Irmela von der Lühe über die Entstehung und Bedeutung von Erika Manns „Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich“ (1938). In diesem Beitrag wird nun Prof. Dr. Benjamin Ortmeyer über Pädagogik in der NS-Zeit berichten.

Sieg der Alliierten – Entnazifizierung in Deutschland

Vor 75 Jahre hatten die Armeen der Anti-Hitler-Koalition mit Unterstützung von Partisanenverbänden und den Widerstandsorganisationen in den vom NS-Deutschland besetzten Gebieten den Sieg über die NS-Wehrmacht und alle bewaffneten Verbände des Deutschen Reiches errungen. Nicht nur das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, der Lagerkomplex Auschwitz, Bergen-Belsen, Dachau, Buchenwald, sondern auch viele andere Konzentrationslager waren in den letzten Monaten des nationalsozialistischen Regimes (NS-Regimes) von den alliierten militärisch eingenommen und die überlebenden Häftlinge endlich befreit. Die Trauer der befreiten Überlebenden über die ermordeten Angehörigen und über alle vom NS-Regime Ermordeten mischte sich mit der großen Freude, dass der Krieg nun mit dem Sieg über den NS-Faschismus beendet werden konnte.

Die alliierten Armeen besetzten das gesamte Deutsche Reich. Zugleich begann das angekündigte Programm zur Bestrafung der NS-Verbrecher*innen und zur Denazifizierung vor allem der staatlichen Organisationen. Der objektive Tatbestand, dass ganz Deutschland befreit wurde, stand im Widerspruch zu den teils sehr berechtigten, teils von dem NS-Regime noch geschürten, teils von den als Folge der jahrelangen NS-Indoktrination und feindlichen Propaganda gegen Alliierte noch gesellschaftlich weit verbreiteten und präsenten Ängsten vor alliierten Armeen und ihren neu eingerichteten Institutionen. Entnazifizierung bedeutete, dass neben Bereichen wie Justiz oder Medizin auch ein großer Sektor des Staates, der Bereich von Universitäten, Schulen und pädagogischen Einrichtungen inhaltlich fundamental umgestaltet werden mussten und die bisherigen NS-Funktionäre aus diesen Institutionen entfernt werden sollten. 

Vergangenheitsbewältigung und aktuelle Bedeutung

Das alles ist 75 Jahre her, eine ganze Generation. Aber wozu heute daran rühren, erinnern, gedenken bzw. das Geschehene analysieren und darüber aufklären? Seit dem 9. Mai 1945 gibt es den Ruf nach einem Schlussstrich: Jetzt sei doch alles vorbei und man müsse sich nicht nach rückwärts wenden, sondern der „Zukunft zugewandt“ sein. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist voll mit Auseinandersetzungen über diese Frage. 

Zunächst tauchten beispielsweise Fragen über die Verjährungsfrist für Nazi-Verbrechen auf, dann wurde über die Rückkehr von aus den Ämtern entlassenen Beamten in den Staatsdienst diskutiert, dann gab es die massive Kritik am Auschwitz-Prozess in Frankfurt. Es folgte der so genannte Historikerstreit über die Einmaligkeit des Völkermordes an der jüdischen Bevölkerung und an den Sinti und Roma sowie die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht. Dazu kam die fürchterliche Rede von Martin Walser in der Paulskirche mitsamt seinem Diktum über die „Moralkeule“ Auschwitz und seinem Gejammer über die Präsentation der „Schande“.

Das waren einige wenige Stichwörter bzw. Beispiele. Heute sitzt eine Partei, die AFD, die von ca. neun Millionen Menschen in Deutschland gewählt wurde, im Bundestag und in den Länderparlamenten. Deren Sprecher Alexander Gauland (vorher CDU-Mitglied mit führenden Funktionen in Hessen) und der hessische Geschichtslehrer Björn Höcke reden von der NS-Zeit als „Vogelschiss in der Geschichte“ und fordern eine „Umkehr der Erinnerungskultur um 180°“.

Dabei geht es nicht nur um Worte und um Ideologie. Es geht vielmehr um mehrere hunderte Menschen, die von einer heutigen Nazibewegung seit 1990 erschlagen, verbrannt oder hingerichtet wurden. Hoyerswerda (1991) Rostock-Lichtenhagen (1992), Mölln (1992), Solingen (1993), Lübeck (1996), die Morde der NSU (2000-2006), der Anschlag in Halle (2020) und kürzlich die Erschießung von neun Menschen, die von Nazi-Mörder als „undeutsch“ abgestempelt waren, in Hanau: Das sind auch wieder nur Stichworte für die realen Verbrechen bis heute in Deutschland.

In diesem Kontext stehen die Erziehungswissenschaft und Pädagogik in Deutschland vor großen Herausforderungen, das verstärkt in Angriff zu nehmen und durchzusetzen, was Adorno vor gut 50 Jahren als „Erziehung nach Auschwitz“ gefordert hat.

School for Barbarians, Erika Mann über die Pädagogik und Erziehung im Nationalsozialismus.Blick in die Erika Mann-Ausstellung.
Welche Debatten gibt es über die NS-Pädagogik seit dem Erscheinen von Erika Manns „School for Barbarians“? Diese und weitere Fragen ergründet Prof. Benjamin Ortmeyer – 2. Teil unserer Serie zu 10 Millionen Kinder. Blick in die Erika Mann-Ausstellung.

Erika Mann – „10 Millionen Kinder“

Erika Mann war nicht „neutral“, sondern sie bezog klar Stellung. 1938 kannte sie schon das Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes in seinen ersten fünf Jahren. Erika Mann analysierte nicht pseudoobjektiv, sondern sie beurteilte und bewertete durch ihre wissenschaftsorientierte Analyse der NS-Pädagogik und verzichtete dabei nicht auf die Stärke der Urteilskraft. Es war ein vernichtendes Urteil über die NS-Pädagogik, in dem es nicht nur um die verheerende Indoktrination einer ganzen Generation ging, sondern auch um die reale Situation der diskriminierten und verfolgten jüdischen Kinder. 

Erika Mann hatte ab 1933 genau verfolgt, mit welcher Brutalität Männer und Frauen der sozialistischen und kommunistischen Bewegung in die KZs, ins Gefängnis und in Zuchthäuser eingeliefert wurden. Sie wusste vom Boykott der jüdischen Geschäfte am 1. April 1933, von den Nürnberger Rassengesetzen 1935 und von der gesamten Realität bzw. Atmosphäre in NS-Deutschland. 

Erika Mann hat ihr Buch „10 Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich“ im Dezember 1937 fertiggestellt, also vor dem staatlich organisierten Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung bzw. vor den unmittelbar am 9. und 10. November 1938 begangenen Morden. Sie schrieb das Buch vor dem Anzünden der Synagogen und den nachfolgenden Massenverhaftungen. Gewichtige Teile der Bevölkerung, gerade auch aus den Dörfern, beteiligten sich unmittelbar an Brandstiftung, Plünderung und Morden. Erika Manns Buch wurde geschrieben vor:

  • Beginn des Zweiten Weltkrieges, 
  • den Massakern an der Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete,
  • der staatlich organisierten und industriell durchgeführten Massenvernichtung von Millionen jüdischer Menschen, der Sinti und Roma, 
  • der hunderttausendfachen Ermordung von Menschen, deren Leben als „unwertes Leben“ bezeichnet wurde. 

Und doch hatte sie schon klar gesehen, dass gerade in den NS-Schulen bzw. in der NS-Pädagogik die Saat für künftige Verbrechen gelegt wurde. Die Enthumanisierung in diesen fünf Jahren, die Erika Mann beschreibt, war eine der Voraussetzungen, dass das NS-Regime seine gigantischen, welthistorisch einmaligen Verbrechen durchführen konnte. Abgesehen von bewundernswerten Widerstandshandlungen von einigen 10.000 Personen unterstützte die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung von 1933 bis zum 8. Mai 1945 insbesondere in den Zeiten seiner militärischen Erfolge aktiv das NS-Regime. NS-Pädagogik und dadurch in den Schulen propagierte NS-Ideologie dienten zur Vorbereitung und Rechtfertigung der im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen und können heute nicht ohne Zusammenhang mit diesen analysiert und bewertet werden. 

Frage nach Normen und Werten in der Wissenschaft: Erinnerungskultur in der Nachkriegszeit

Die Verharmlosung des NS-Regimes und der NS-Ideologie sowie der NS-Pädagogik war in den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik Deutschland auch im wissenschaftlichen Bereich ein grundlegendes Problem. Dabei ging es nicht nur um das alltagssprachliche Diktum: „Es wurden ja auch die Autobahnen gebaut“, sondern es gab eine umfangreiche personelle Kontinuität. 

Folgendes Vorgehen kennzeichnete den Wissenschaftsbetrieb:

Erstens: Das gröbste und einfachste Mittel war, das Thema der Naziverbrechen, der Nazi-Ideologie insbesondere der Nazi-Pädagogik, einfach aus Forschung und Lehre auszuklammern. Ausblendung und Verdrängung der NS-Verbrechen fand dabei in der Geschichtswissenschaft, der Medizin, Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft und in den Rechtswissenschaften statt.

Zweitens: Wenn dann die NS-Zeit doch thematisiert wurde, so gab es einen weiteren Weg der Verdrängung. Es kam der uralte Streit zwischen Positivismus (1) und einer humanistisch orientierten Wissenschaftstheorie zum Tragen. Unstrittig hatten die NS-Wissenschaftler die Wissenschaft im Sinne der NS-Ideologie „parteilich“ und politisch verbogen. Was nicht passte, wurde passend gemacht. Aber bedeutete die Abkehr von Pseudo-Methoden der NS-Wissenschaft, dass Wissenschaft nur beschreiben und nicht bewerten durfte? Hier war ein klares Nein erforderlich.

Der „Positivismus-Streit“

Der sogenannte „Positivismus-Streit“ wurde vor allem in der Soziologie ausgetragen und hat bis heute große Bedeutung. Die humanistisch orientierte Soziologie von Adorno und anderen Remigrant*innen hält die Bewertung von geschichtlichen Ereignissen für eine kritische Wissenschaft zwingend erforderlich. Verbrechen müssen als Verbrechen bezeichnet werden. Sie dürften nicht durch die Flucht ins Allgemeine zu bloßen „Taten“ bagatellisiert werden. 

Diese kritische Perspektive in Bezug auf die Aufarbeitung der NS-Verbrechen wurde mit dem diabolischen Argument abgewehrt, dass es die Nazis gewesen waren, die den doch „objektiven“ Charakter der Wissenschaft in eine parteiliche Wissenschaft verwandelt bzw. die Wissenschaft instrumentalisiert hätten. Das stimmt soweit. Aber was folgt aus dieser Prämisse? 

Falsch ist die Schlussfolgerung: Ein rein objektives, positivistisches Wissenschaftskonzept sei – angeblich – die richtige Antwort auf das Wissenschaftsverständnis in der NS-Zeit. Falsch wird es, wenn jede bewertende und somit parteiliche, sich gesellschaftlich-politisch positionierende Wissenschaft abgelehnt wird, unabhängig von ihren offen dargelegten Ausgangspunkten und Normen sowie von ihrer Orientierung. Eine solche vermeintlich neutrale, objektivistische Methodik wäre aus Sicht von Adorno, Horkheimer und Anderen eine Unmöglichkeit, da Auswahl der Untersuchungsthemen sowie der Untersuchungsmethodik und die Art der Beschreibung subjektive Entscheidungen sind.

Die „Systemtheorie“ – Auswirkungen auf die Erziehungswissenschaft

Nach dem Tod Adornos entwickelte sich dieser Streit unter neuen Vorzeichen weiter. Die sogenannte „Systemtheorie“ von Niklas Luhmann wurde populär – mit großen Auswirkungen auch auf die Erziehungswissenschaft. Paradoxien aufzeigen, die man eh nicht ändern kann, jedoch bloß keine Gesellschaftskritik – das waren Kernpunkte der „Systemtheorie“. (2)

Das war auch die Folie, um auch die NS Zeit möglichst „neutral“ zu beschreiben. Es wurde als Aufgabe gestellt, einzelne Teile als in sich geschlossene „Systeme“ ohne wesentlichen Gesamtzusammenhang zu betrachten.

Über die Analyse einzelner Bereiche, etwa nur bestimmter bürokratischer Strukturen, oder etwa der Teilbereiche des „normalen“ Alltags der sogenannten „normalen Deutschen“ durch positivistischen Analyse verschwanden die eigentlichen Verbrechen des NS-Regimes mehr und mehr. Die Relevanz oder eben Irrelevanz eines Themas wurde nicht mehr im geschichtlichen Gesamtzusammenhang hinterfragt.

Für die Erziehungswissenschaft bedeutete dies, dass etwa über den formalen Aufbau des Schulsystems in der NS-Zeit geforscht wurde. Es gab beispielsweise streng nach der Aktenlage analysierte Arbeiten über den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB), wobei durch die kleinteilige Analyse der jeweilige Zusammenhang mit der realen Vertreibung von jüdischen Schüler und Schülerinnen ausgeklammert wurde. Die Auswahl des Themas, die Zuspitzungen – das ist die subjektive Entscheidung eines jeden Menschen, der im Wissenschaftsbetrieb arbeitet. Hier werden Weichen gestellt. Es basierte also auf subjektiven, somit wertenden Entscheidungen, wenn in den ersten 30 bis 35 Jahren nach 1945 das Schicksal der jüdischen Schüler und Schülerinnen in der NS-Zeit weitgehend eine Leerstelle in der Forschung der Erziehungswissenschaft bildete.

Methode der „Wertfreiheit“ – scheinbare Objektivität

Drittens: Kombiniert mit dieser Methode der sogenannten „Wertfreiheit“ wurde in der Geschichte der bundesrepublikanischen Erziehungswissenschaften dann in Teilbereichen behauptet, dass doch angeblich „objektiv“ bewertet worden sei, was es doch an positiven Teilen des NS-Systems gegeben hätte. Positive und negative Seiten des NS-Systems müssten „entmischt“ werden, das Positive müsste bewahrt werden.

„Alles hat zwei Seiten“ hieß es oft, auch die SS, „die ja durchaus zweiseitig war.“ So formulierte wörtlich diese Sichtweise der in der BRD hochangesehene Erziehungswissenschaftler Eduard Spranger. (3) Sei es,                                             

  • dass Teile der NS-Frauenorganisationen gelobt wurden, 
  • dass in der „HJ“ sich auch um blinde Jugendliche gekümmert wurde, 
  • dass die ersten KZs „funktionstheoretisch“ als Erziehungsanstalten beschrieben wurden,
  • dass die Konkurrenzkämpfe und Interessenskonflikte innerhalb der NS-Hierarchie im pädagogischen Bereich als Widerstandshaltungen gegen das NS-Regime eingestuft wurden.

Der Kern dabei war eine Entlastung der im NS-Regime handelnden Personen. Dazu gehört auch die Wortwahl der Verharmlosung, wenn von den „dunklen Jahren“ die Rede ist oder ähnliche verharmlosende Metaphern verwendet werden. Eine bedeutende Rolle spielen auch apologetische Erinnerungen gewichtiger Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt und Joachim Fest, die ihre Nazischulzeit als „glückliche Jahre“ (4) beschrieben, aber auch beispielsweise Erinnerungen von deutschen Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftlern (5). 

Erika Manns Analyse und ihre Bedeutung für heute

Aktuell gibt es eine Debatte um die GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft), da der frühere Vorsitzende der GEW, Max Traeger schon im Mai 1933 in den NS-Lehrerbund eingetreten war, dem in späteren Jahren (1937) 97% aller Pädagoginnen und Pädagogen angehörten. (6)

In dieser Auseinandersetzung geht es darüber hinaus um die Profession der Lehrkräfte in der NS-Zeitüberhaupt (7), um ihr politisches und moralisches Versagen, um ihre Anbiederung und ihr Mitwirken an der Stabilität des NS-Regimes. Immerhin waren ein Drittel der Lehrkräfte Mitglieder in der NSDAP, viele davon feste Größen in der Partei-Hierarchie. 

Der verbrecherische Charakter der NS-Schule, den schon Erika Mann analysiert hat, wird durch die unzähligen Berichte der ehemaligen jüdischen Schüler*innen zu ihrer Schulzeit zwischen 1933-1938 deutlich. Genau aus diesem Grund haben die späteren „Weißwäscher“ solche Berichte und dann die Deportation und Ermordung jüdischer Schüler*innen bagatellisiert. Bezüge zu Erika Manns Analysen findet man aktuell gar nicht mehr. Als wichtig wurden im Streit um Max Traeger und den NSLB etwas Fragen der Bezahlung der Lehrkräfte betrachtet und analysiert: Ein arg durchsichtiges Manöver zur Entlastung des Verhaltens von NSLB-Lehrkräften. 

Umso wichtiger ist es daher heute, die Analyse Erika Manns zu verbreiten und nachdrücklich auf die Berichte der jüdischen Schüler und Schülerinnen zu verweisen. Es ist gerade eine der Stärken des Buchs von Erika Mann, dass sie die schon 1933-1937 furchtbare Lage der jüdischen Kinder und Jugendlichen beschrieben und auch mit diesen Berichten das NS-Regime angeklagt hat.

Die Ziele der NS-Erziehung (8)

Nun, es gibt auch viele positive Beispiele der Analyse der NS-Pädagogik. Vor allem in den Zeitspannen 1980-1995 wurde doch eine große Zahl von vorliegenden lokalen Studien von so genannten „Barfuß-Historikern“ publiziert. Diese kritisch-emanzipatorischen Lehrkräfte erforschten mit ihren Schüler*innen die Geschichte der eigenen Schulen.

Es entstand – auch in der Kritik an geschichtsrevisionistischen Ansätzen eine Fülle wissenschaftlicher Forschungen und Publikationen zur NS-Pädagogik, zu den Erlassen, Lehrplänen, Schulbüchern, zu den  erziehungswissenschaftlich-pädagogischen Zeitschriften in der NS-Zeit sowie zu den Schulakten in der NS-Zeit, 

All diese Publikationen analysierten die Ziele der NS-Pädagogik in weitgehender Übereinstimmung mit Erika Manns Analyse. Diese Ziele der NS-Erziehung werden im Folgenden kurz zusammengefasst.

Folie zur Vorlesung "Antisemitismus im Schulalltag" von Prof. Benjamin Ortmeyer mit Zitat "Der Jude ist unser größter Feind! Hütet Euch vor den Juden" Foto aus der NS-Zeit vor 1938
Folie zur Vorlesung zu den Berichten der jüdischen Schülerinnen und Schülern: „Antisemitismus im Schultag“ von Prof. Benjamin Ortmeyer

Hitler über „Erziehungsgrundsätze“

Hitlers Buch „Mein Kampf“ hatte gerade für die in der pädagogischen Arbeit tätigen Menschen eine große Bedeutung. (9) Die Halbwahrheit, dass dieses Buch eigentlich gar nicht gelesen wurde oder nicht bekannt sei, stimmt insbesondere für die Lehrkräfte der NS-Schule ganz und gar nicht. Bei den Schulungen zu diesem Text von Adolf Hitler wurde insbesondere der Abschnitt über Erziehung hervorgehoben. Auch die vielen erziehungswissenschaftlich-pädagogischen Zeitschriften orientierten sich an diesen Maximen. 

Die NS-Ideologie hat in seinen einzelnen Bestandteilen im Kern alle reaktionären Ideen zusammengestellt, die in der deutschen Gesellschaft und in deutschsprachigen Publikationen bereits verbreitet waren:

  • Das judenfeindliche Motto „Die Juden sind unser Unglück“ des Historikers Heinrich von Treitschke im Kaiserreich
  • Die Rede von der so genannten „Zigeunerplage“
  • Rassetheorien und entsprechende Kategorisierungen von Menschen,
  • Die schon vor der NS-Zeit publizierten Behauptungen über das „unwerte Leben“, 
  • Deutscher Nationalismus und die Zeile „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“ von Hoffmann von Fallerslebens 
  • Militaristisches Denken im Sinne des blinden Gehorsams, die Parole „Befehl ist Befehl“.

All dies gab es schon. 

Die Kombination, vor allem aber auch dann die schrittweise Verwirklichung dieser reaktionären Grundpositionen – das ist der Kernpunkt einer keinesfalls in sich geschlossenen, sondern eklektischen Ansammlung von Thesen der NS-Pädagogik.

1. „Die deutschen Herrenmenschen“

Allen als deutsch eingestuften Jugendlichen wurde eingetrichtert, dass sie von Geburt aus etwas Besseres seien. Die bei Jugendlichen im Allgemeinen existierenden Minderwertigkeitsgefühle wurden psychologisch bewusst genutzt, um Stärke zu suggerieren: Von Geburt aus, durch Rasse, Nationalität und Geschichte seien die Deutschen dazu bestimmt, das erste Volk auf der Erde zu werden, sie seien als Deutsche eben Herrenmenschen. 

Hitler formulierte in diesem Sinne über die Erziehung der Jugend: 

Seine gesamte Erziehung und Ausbildung muss darauf angelegt werden, ihm die Überzeugung zu geben anderen unbedingt überlegen zu sein. (S.456) (10)

Es gehe darum, dass „Säulen eines unterschiedlichen Nationalgefühls“ entstehen. Hitler schrieb weiter: 

Planmäßig ist der Lehrstoff nach diesen Gesichtspunkten aufzubauen, planmäßig die Erziehung so zu gestalten, dass der junge Mensch beim Verlassen seiner Schule nicht ein halber Pazifist, Demokrat oder sonst was ist, sondern ein ganzer Deutscher. (ebd., S. 474f.) 

Unverhüllt war klar, dass Krieg gefordert wurde, um „dem deutschen Volk dem ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern“ (ebd., S .739). Dieser deutsche Nationalismus auf rassistischer Grundlage, die kruden Theorien über Arier und über die nordische Rasse waren ideologische Vorbereitung auf die militärische Unterwerfung und nachfolgende Ausplünderung anderer Völker im imperialen Krieg. Das ständige Lob des „Deutschen“, der deutschen Jugend, der deutschen Mädels, der deutschen Arbeiter, der deutschen Bauern, der deutschen Frauen, der deutschen Soldaten und so weiter hat zudem eine andere, mörderische Seite.

2. Die Judenfeindschaft und weitere Feinde, die vernichtet werden müssen

Die von Hitler im Deutschen Reichstag am 30. Januar 1939 offen formulierte Ankündigung der „Vernichtung der jüdischen Rasse“ als Höhepunkt der ideologischen Judenfeindschaft hatte im Unterricht verwendete Vorgaben auf verschiedensten Gebieten: 

  • die geschürte Angst vor der angeblichen „jüdischen Weltherrschaft“, 
  • die Propaganda über die gefährlichen „reichen Juden“ und die gefährlichen „armen Ostjuden“,
  • die Anklage des „jüdischen Bolschewismus“, 
  • die Fülle von Anklagepunkten gegen die jüdische Bevölkerung, die biologisch-rassistisch definiert wurden und in der Bezeichnung der jüdischen Menschen als „tierische Schädlinge, Wanzen und Bazillen“ kulminierte.

Die Judenfeindschaft war das zentrale Feindbild in der gesamten NS-Pädagogik

Selbstredend wurde auch gegen die so genannten „Zigeuner“ gehetzt. Hier wurde nach unten getreten, wie es im deutschen Alltag seit Jahrhunderten üblich war. „Juden und Zigeuner“ wurden als die beiden „außereuropäischen Rassen“ erklärt.

Ein weiteres Feindbild kam hinzu und hier gab es ein Problem. Es waren oppositionelle Deutsche, die auch als Feindbild deklariert wurden. Der Kampf gegen sozialistische und kommunistische Kräfte war für die NSDAP von Anfang an wesentlich. Da diese jedoch nach den Regeln der „Nürnberger Rassegesetze“ als „arische Deutsche“ eingestuft waren, wurde ihnen der Übergang zur NS-Politik nahegelegt und zumindest offeriert. Weiterhin wurden sie angehalten, ihr „undeutsches“ Leben aufzugeben und sich in die SA und in der NS-Bewegung einreihen. Den „Unverbesserlichen“ aber wurde das wirkliche „Deutschsein“ abgesprochen. Sie wurden kurzerhand als „antideutsche Feinde“ deklariert. 

Eine andere Gruppe der Deutschen, die durch rassistische Eugenik definiert wurde, waren die so genannten „erbkranken“ Deutschen. Das rassistisch begründete Ideal war eine vermeintlich erbgesunde deutsche Bevölkerung bzw. die „deutsche Volksgemeinschaft“, in der als ‚erbkrank‘ bezeichneten Menschen keinen Platz hätten. 

Für das 1934 in Kraft getretene Sterilisationsprogramm wurde noch geworben. Es wurde einerseits zynisch auf die ‚Tragik‘ der Betroffenen hingewiesen und andererseits an die für den NS-Staat nötige „Opferbereitschaft“ der betroffenen Personen appelliert. Dabei blieb es aber nicht. Im Vernichtungsprogramm T4 wurden zunächst ca. 70.000 Personen innerhalb Deutschlands ermordet, auch in Gaskammern. 

Das fiel zwar unter die Geheimhaltung, war aber ideologisch beispielsweise durch Textaufgaben im Mathematikunterricht vorbereitet: Berechnet wurden etwa die Kosten der Unterbringung von behinderten Personen in Pflegeeinrichtungen und wie viele Arbeiterwohnungen mit diesem Geld gebaut werden könnten. Penetrant wurde auch in NS-Veröffentlichungen für Jugendliche, wie z. B. in der an alle Jugendlichen gerichteten, millionenfach verbreiteten Zeitschrift des NS-Lehrerbundes „Hilf mit!“, die Hetze gegen die Menschen in „Irrenanstalten“. Das Morden wurde nach einigen Protesten aus kirchlichen Kreisen und von Familienangehörigen der so ermordeten Kranken vor allem durch verhungern lassen und Medikamentation/Injektionen mit größerer Geheimhaltung fortgesetzt.

Die Massenmorde gegen Menschen, deren Leben als „unwertes Leben“ bezeichnet wurde, setzte sich nach T4 (benannt nach der Zentrale dieser Morde in Berlin, Tiergarten 4) nicht nur in Deutschland, sondern auch in den besetzten Ländern fort; die Gesamtzahl der so, mit Giftgas, Injektionen und durch Hunger ermordeten kranken Menschen wird auf 300.000 Personen geschätzt.

3. Befehlen und Gehorchen Lernen – Der „autoritäre Charakter“ als Ziel der NS-Erziehung

Heinrich Mann hat 1918 in seinem weltberühmten Roman „Der Untertan“ das Bild des deutschen Spießers im Kaiserreich („nach oben buckeln, nach unten treten“) großartig nachgezeichnet. Und sicherlich war dieser Typ des Untertans auch in der NS-Zeit vorhanden. Er spielte eine große Rolle dabei, dass es so etwas wie Massenopportunismus gab, der aus der Anpassung an die jeweils Herrschenden bestand. 

Der typische Hitlerjugend-Junge

Das Erziehungsideal der NS-Pädagogik war aber nicht dieses prototypisch gezeichnete Bild eines Mannes. Der typische Hitlerjugend-Junge sollte immer das Kinn hochtragen, immer als Herrenmensch auftreten, auch wenn er Befehle auf das Gehorsamste ausführte. Dabei war ein entscheidendes Erziehungsmittel, dass in der Hierarchie der Hitlerjugend (HJ) über kurz oder lang jeder, auch der Zwölfjährige, einen Posten bekam, durch den er andere Kinder und Jugendliche kommandieren konnte. Es musste also nicht immer nur gehorcht werden, sondern der HJ-Junge lernte auch zu befehlen. 

Das war eine formulierte Erziehungsmaxime: „Lernen zu befehlen und zu gehorchen“. So spürten auch junge HJ-Führer das Gefühl der Macht und das Gefühl, andere zu beherrschen, von ihnen bedingungslosen Gehorsam zu erwarten sowie diesen im Zweifelsfall durchsetzen zu können. Es war diese dialektische, psychologisch durchdachte Komponente, die dazu führte, dass jeder in der Realität dieses vermittelte Gefühl, ein vermeintlicher Herrenmensch zu sein, mit eigenem Handeln verbinden konnte. Denn er durfte ja befehlen.

Das deutsche Mädel

 Wenn hier bisher meist von ‚Schulkindern‘ im allgemeinen oder im speziellen die Rede war, so hat das seinen Grund darin, daß im Hitlerland die Mädchen eine durchaus sekundäre und geringe Rolle spielen und zu spielen bestimmt sind. Sie sollen Mutter werden, Mutter, Mutter.  […] 

Aber am Ende ist die Vernachlässigung gerade die ihr (Mädchen) erfahren, eure Rettung, und die Geringschätzung, mit der man euch abtut, euer Glück?“ 
Erika Mann, 10 Millionen Kinder, S.125

Hier irrte Erika Mann, wie sich zeigte.

Das „deutsche Mädel“ wurde in der NS-Pädagogik in der Tat ganz besonders rassistisch auf „Rassenreinheit“ und „Volksgesundheit“ indoktriniert. Möglicherweise hat Erika Mann die Bedeutung der Indoktrination der Mädchen und Frauen hier doch arg unterschätzt. Analysen des Bund Deutscher Mädel (= BDM) zeigen, dass ab 1933 Mädchen im Bereich der Indoktrination nicht nur „sekundär“ indoktriniert wurden. Mädchen haben also diesbezüglich kein „Glück“ gehabt, wie Erika Mann vermutete.

Mädchen und Frauen wurden zu tragenden Säulen des Systems. Sie wurden von Hitler wie Goebbels in deren Reden und Appellen immer direkt adressiert, was Politiker zuvor nicht taten: „die deutsche Frau“, das „deutsche Mädchen“ erfuhr dadurch verbal große Beachtung. Sie wurden rassistisch und judenfeindlich ausgerichtet. Junge Frauen waren seit 1941 als Arbeitskräfte fester Bestandteil der Kriegsproduktion. Der BDM verschickte die „deutschen Mädels“ des BDM auch in die besetzten polnischen Gebiete und waren dort etwa in Lodz mit der Realität des jüdischen Ghettos konfrontiert, wie das Organ „Das Deutsche Mädel“ anschaulich mit Fotos über die „schmutzigen Juden“ und judenfeindlichen Tiraden berichtete. (Nr.4, April 1941: „Dabei scheinen sich die Juden in dieser Umgebung durchaus wohl zu fühlen“, S. 14). 

Wertschätzung und Glück

Die gesamte Jugendorganisation war so gestaltet, dass man in der Wertung bzw. in der Hierarchie mit zunehmendem Alter aufsteigen konnte. Das Ganze wurde ganz bewusst so organisiert, dass die Menschen sich nicht unterdrückt oder schlecht fühlten, sondern sich in diesem Kontext von Befehl und Gehorchen sogar noch gewertschätzt fühlten und dabei „glücklich“ waren. 

Es soll hier kurz auf eine Rede Adolf Hitlers von 1936 verwiesen werden: 

Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln; und wenn diese Knaben zehn Jahren in unserer Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klasse und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in den NSKK usw. Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen siein den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs Monate geschliffen  …  Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassen-und Standesdünkel da oder dort vorhanden sein sollte, das übernimmt die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre. Und wenn sie nach 2,3 oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS usw., und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben …“ (11)

In späteren Analysen der NS-Ideologie bricht das Zitat an dieser Stelle oft ab, obwohl gerade die Fortsetzung von entscheidender Bedeutung ist. Es gibt diese Rede als Tondokument. Hitler macht eine kurze Pause und fährt dann fort: „und sie sind glücklich dabei.“ 

Hitler hat hier in brutaler Offenheit über die Methoden der Indoktrination berichtet. In den Schriften der NS-Pädagogen und in den Schriften Hitlers war von „Hineinhämmern“, „Hineinbrennen“ die Rede. Ja, es war eine brutale Indoktrination. Die Jugendlichen wurden „geschliffen“ wie es im Militär heißt. Doch es gab eine Besonderheit, die Jugend sollte innerlich gewonnen werden, der „pädagogische Stoß ins Herz“ sollte treffen, wie es bei Eduard Spranger (Geborener Erzieher, 1958, S. 301) hieß. Daher sahen sich die NS-Pädagogen im Sinne Hitlers verpflichtet, zu erreichen, dass die Jugendlichen sich bei der ganzen Prozedur glücklich fühlten. Aber wie konnte das erreicht werden? Sowohl Befehlen als auch Gehorchen war nur eine Methode unter anderen.

Die Methoden der NS-Erziehung

Ein großer Teil der Erziehungswissenschaftler*innen und ein großer Teil der Lehrkräfte in den Schulen war durchaus mit den früher eher linksgerichteten Methoden der Reformpädagogik vertraut. Es waren Methoden, die nun mit anderem Inhalt gefüllt werden konnten und erfolgreicher und effektiver waren als die Prügelpädagogik. Um es nur kurz anzureißen (12), es war wesentlich, dass ‚Erlebnisse‘ organisiert wurden. Erlebnisse, das war ein Schlüsselbegriff in der Reformpädagogik und so hat man sowohl in der HJ als auch in den Schulen jede Menge Feiern als ‚Erlebnis‘ organisiert, die vielen Sammelaktionen sind nicht zu vergessen. Es wurden nicht nur Ausstellungen besucht, sondern in Projekten und Wettbewerben selber Ausstellungen erstellt. 

Ja, es gab sogar die Forderung nach forschendem Lernen, etwa wenn man mit einer Jugendgruppe zu einer Kirche aufbrach, um in den Kirchenbüchern nach „getauften Juden“ zu suchen, wie in der Zeitschrift des NS-Lehrerbundes „Hilf mit!“ (13) propagiert wurde. Kurz, alle als fortschrittlich angesehenen Methoden der Pädagogik wurden mit einem durch und durch nationalsozialistischen Inhalt gefüllt, um so einen Schwung in die pädagogische Arbeit zu bringen, die mit NS-Ideologie inhaltlich gefüllt wurden. In Gruppenarbeit und per Wochenplan wurde jetzt die Biographie Horst Wessels behandelt.

Das alles waren wesentliche Mittel, um eben jenes Glücksgefühl zu erzeugen, von dem Hitler gesprochen hat und von dem auch nach Jahrzehnten noch prominente Deutsche offensichtlich mit nostalgischer Erinnerung berichteten, nämlich dass sie in der NS-Zeit in der Schule eigentlich „glückliche Jahre“ verlebt hätten.

Diese reformpädagogischen Methoden wurden mit einem reaktionär gefärbten Gemeinschaftsbegriff und der NS-Moral kombiniert. Ein hoher NS-moralischer Standard angesichts der NS-Pflichten wurde tagtäglich gefordert. Diese Moral hatte selbstverständlich nichts mit einer humanistischen Moral zu tun. Man konnte nur „ein guter deutscher Junge“ oder „gutes deutsches Mädel“ sein, wenn man für den Führer Sammlungen durchführte, seien es Heilkräuter oder Knochen oder Geld für das Winterhilfswerk.

Gerade die Jugendzeitschriften in der NS-Zeit waren voll mit dieser Idylle, hinter der eine umso fürchterliche Drohung stand: Wer nicht mitmacht, wird aus dieser Gemeinschaft ausgestoßen und hat dann gar nichts. Dieser hohe Standard einer NS-spezifischen Moral führte dazu, dass Jugendliche dachten, sie hätten wirklich etwas Nützliches getan, sie seien gute, glückliche, „anständige“ Menschen. Das sind die, in den Erinnerungen der von sogenannten NS-Kamerad*innen ausführlich geschilderten, vermeintlich „positiven Seiten“ des NS-Regimes. Sie wurden und werden vom Gesamtsystem abgetrennt verherrlicht.

Die immanenten Probleme der NSErziehung

Aus Analysen der erziehungswissenschaftlichen Zeitschriften der NS-Zeit geht hervor, dass es durchaus immanente Probleme und Widersprüche in der NS-Pädagogik gab, denn es sollte ja nun die Weltgeschichte und die aktuelle Lage mithilfe der so genannten Rassentheorie erklärt werden. Dass es überhaupt ‚Rassen‘ gebe, wurde von den NS-Ideologen in der Tradition der damals gängigen biologistischen und anthropologischen Forschung durch Verweise auf das Tierreich, insbesondere auf Hunderassen und Pferderassen erklärt. Dieser Schritt war also noch relativ einfach. 

Aber wie setzten sich nun die angeblichen „Rassen“ in Deutschland zusammen? NS-Ideologen wie Professor Günther aus Jena erklärten, die jüdische Bevölkerung bestehe aus „Mischrasse“. Und auch das deutsche „Volk“ sei keine einheitliche „Rasse“, sondern bestehe aus sechs verschiedenen „Rassenbestandteilen“. Die sogenannte „Rassenlehre“ wurde an Wandtafeln demonstriert. Die „nordischen“ und „arischen“ Komponenten sollten vor den „westlichen, ostischen und fälischen Rassenelementen“ die führenden Komponenten sein. Das war kompliziert, nicht sehr logisch und ein wenig verwirrend. Manche zählten fünf „Rassenkomponenten“, manche sechs. 

Aber in der Pädagogik war es natürlich einfacher, von einer jüdischen und einer deutschen „Rasse“ zu reden, auch wenn die sich als hochwissenschaftlich gelehrt gebenden NS-Ideologen aus der Zeitspanne der Weimarer Republik eine andere Definition schon vorgegeben hatten. Hier wurde also das Problem elegant übersprungen. In den Gymnasien wurde zwar zu den unterschiedlichen „Rassenkomponenten“ ein wenig gelehrt, aber im Großen und Ganzen hat der rassistisch begründete deutsche Nationalismus den Lehrstoff geprägt. Denn dieser war einfacher und einleuchtender für die Jugendlichen, die nun glaubten, dass sie per Geburt Teil einer „Rasse“, die der „Herrenmenschen“, seien.

Hier schloss bereits das nächste Problem an, da man ja bei der Judenfeindschaft nicht wie beim Kolonialrassismus von vermeintlichen Hautfarben oder sichtbaren Unterschieden ausgehen konnte, der Rassenbegriff jedoch an anders aussehende Haarfarbe, an Schädel- und Nasenform und ähnlichen Unsinn gebunden war. Und die Schulpraktiker*innen beklagten, dass sich blonde Jungen und Mädchen auf einmal den dunkelhaarigen Jungen und Mädchen überlegen fühlten, wenn die Rassenlehre im Unterricht behandelt wurde. Das war für das Gemeinschaftsgefühl schlecht, die Pädagogen holten sich daher Rat, wie das Problem zu lösen sei. Hier half u.a. der Rückgriff auf den NS-Ideologen Alfred Rosenberg und seine These von der so genannten „Rassenseele“, die von der NS-Psychologie ausgebreitet wurde: Die „Rassenseele“ war das Phantom, das unsichtbar darüber bestimmte, – auch unabhängig von der Haarfarbe – ob jemand eine gute „nordisch-arische Rassenkomponente“ in sich hatte oder nicht. Diese Konstruktion der „Rassenseele“ wurde also zum „Joker“, wenn ein jüdischer Junge oder ein jüdisches Mädchen blond und blauäugig war. Denn dann hatte er oder sie trotzdem eine jüdische „Rassenseele“. 

Ein solches Vorgehen war umso nötiger, da nun die führenden Gestalten der NS-Diktatur Hitler, Göring und Goebbels ja auch nicht so aussahen wie die SA und SS-Männer auf den Plakaten.

Ein letztes „Problem“ soll hier noch in aller Kürze aufgezeigt werden: Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung war mit oder ohne sonntäglichen Kirchbesuch doch in der christlichen Tradition groß geworden, Weihnachten und Ostern kannten alle. Irgendwie war bis ins letzte Dorf doch noch bekannt, dass Jesus eigentlich der „König der Juden“ war. Gerade im Religionsunterricht waren die Lehrkräfte diesbezüglich schwer in Bedrängnis. Es bot sich an, die Behauptung in die Welt zu setzen, dass Jesus gar kein Jude gewesen sei, um aus diesem Dilemma herauszukommen. Gleichzeitig wurde das von den Christen sogenannte „Alte Testament“ im Religionsunterricht massiv zurückgedrängt. Auch hier gab es die Gegenthese, gerade durch die Kenntnis des Alten Testamentes würde man die üblen Eigenschaften der Juden ja bestens kennenlernen, daher müsste der Religionsunterricht sich damit beschäftigen. (14)

In den oben geschilderten drei Themenbereichen Rassentheorie, Haarfarbe und die Frage, ob Jesus nun ein Jude sei oder nicht, gab es durchaus auch widersprüchliche Aussagen und es wurden inhaltliche Kontroversen ausgetragen. Das zu wissen gehört zur Kenntnis über die gesamte Realität der NS-Pädagogik.

Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und Studium der Erziehungswissenschaft

Warum die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit – den NS-Verbrechen, der NS-Ideologie und der NS-Pädagogik – ihren festen Platz im Studium der Erziehungswissenschaften haben sollte.

So lautete die Überschrift eines Appells aus dem Jahr 2015 an die Kultusministerkonferenz, an die Wissenschaftsministerien der Länder und an das Bundeswissenschaftsministerium sowie an alle Universitäten und Hochschulen in Deutschland. Dieser Appell hat ein großes Medienecho hervorgerufen und wurde von Hunderten von Menschen und mehreren Dutzenden von Professor*innen unterzeichnet. Eine Antwort auf den Appell gab es und gibt es nicht. Abschließend sei also vermerkt, dass dieser Appell, in den letzten fünf Jahren bis heute leider nichts von seiner damaligen Aktualität verloren hat. Im Gegenteil. (15) 

Einleitend heißt es dort:

Moralische Prinzipien und eine demokratische Orientierung sind wesentlich für das Studium der Erziehungswissenschaften. Ob Lehrerinnen und Lehrer, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen – wer auch immer Erziehungswissenschaften studiert und später pädagogisch tätig sein wird, hat es mit Menschen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen zu tun. Für die pädagogische Tätigkeit ist nicht nur spezielles Fachwissen eine grundlegende Voraussetzung, sondern gerade im Studium gilt es auch Grundfragen und Probleme des pädagogischen Berufes selbst auf den Prüfstand zu stellen, kritisch zu erörtern und zu diskutieren. Die Problematik und die Grenzen dieses Berufes wurden nirgends so deutlich wie in Theorie und Praxis der NS-Pädagogik, die ihren festen Anteil an der Verbreitung der NS-Ideologie und der Vorbereitung der mörderischen NS-Verbrechen hatte. Die Verwendung pädagogischer Techniken mit dem Ziel der ideologischen Indoktrination und einer grundlegenden Enthumanisierung gegenüber ausgegrenzten und auszugrenzenden Menschengruppen sind wichtige, extrem negative Beispiele, die sehr genau verdeutlichen können, warum eine humanistische und demokratische Pädagogik nötig ist und wo Manipulation und Indoktrination auch mit dem Einsatz moderner Techniken und wissenschaftlicher Forschung beginnen. „Erziehung nach Auschwitz“ ist daher eine vielseitige Aufgabe: Die Fähigkeit Nein zu sagen, nicht alles mitzumachen, aber eben auch Kenntnisse über die Vernichtungslager, die KZs, das NS-Mordprogramm und die mörderische NS-Ideologie sind, um nur zwei Aspekte knapp zu benennen, Grundlagen, die unverzichtbar sind.

Autor: Prof. Benjamin Ortmeyer

In einem DFG-Projekt wurden im Rahmen der Forschungsstelle NS-Pädagogik Studien zu 10 erziehungswissenschaftlich-pädagogische NS-Zeitschriften publiziert. In weiteren Projekten wurden im Rahme der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto-Brennen-Stiftung „Vortragskonzepte NS-Zeit: Verbrechen-Ideologie-Pädagogik-Nach 1945“ für die universitäre Lehre erarbeitet und erprobt. Zudem wurde zusammen mit Dr. Katharina Rhein „Materialien für Lehre, Unterricht und gewerkschaftliche Bildungsarbeit: NS-Propaganda gegen die Arbeiterbewegung“ herausgegeben.

Prof. Benjamin Ortmeyer im Web

Website Benjamin Ortmeyer
Projekt: Pädagogik und NS-Zeit. Zugänge zum Wissen über die NS-Zeit
Forschungsstelle NS-Pädagogik

Endnoten

1 Siehe den Sammelband Adorno, Th. W. u.a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt 1972 

2 Die Kontoverse Habermas –Luhmann wurde dokumentiert im Sammelband Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt am Main, 1970.

3 Spranger, Eduard: Ein Professorenleben im 20. Jahrhundert, (1953), in: Gesammelte Schriften Band X, Tübingen/ Heidelberg 1973, S. 353.

4 Siehe Schmidt, Helmut u.a.: Kindheit und Jugend unter Hitler, Berlin 1994.

5 Klafki, Wolfgang (Hrsg.): Verführung, Distanzierung, Ernüchterung – Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Weinheim 1988, Erika Mann nennt diese Zahlen schon, 

6 siehe Mann, Erika: Zehn Millionen Kinder, Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich, Frankfurt am Main 2017 (7. Auflage), S. 59.

7 Siehe u.a. Brumlik, Micha/Ortmeyer Benjamin (Hrsg.): Max Traeger – kein Vorbild. Person, Funktion und Handeln im NS-Lehrerbund und die Geschichte der GEW, Weinheim 2017.

8 Eine persönliche Bemerkung sei hier kurz gestattet: Das großartige Buch von Erika Mann über die NS Pädagogik hat meine eigene Arbeit zur wissenschaftlichen Erforschung der NS Pädagogik wesentlich beeinflusst und wurde von mir in meiner ersten wissenschaftlichen Studie ganz bewusst vorgestellt. Siehe die Dissertation „Schicksal jüdischer Schülerinnen und Schüler in der NS-Zeit – Leerstelle der deutschen Erziehungswissenschaft?“, Bonn 1998.

9 Siehe Mann, Erika: Zehn Millionen Kinder, Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich, Frankfurt am Main 2017 (7. Auflage), S. 54-56.

10 Dies und die nachfolgenden Zitate Hitlers sind im Abschnitt „Erziehungsgrundsätze des Völkischen Staates“  aus „Mein Kampf“, Berlin 1937 zu finden.

1 Rede Adolf Hitlers am 2.12.1936 in Reichenberg. Das Tondokument der Rede befindet sich im Archiv der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz in Berlin. 

12 Es gibt eine umfangreiche Auseinandersetzung insbesondere über Peter Petersen zu diesem Thema. Siehe Ortmeyer, Benjamin: Mythos und Pathos statt Ethos und Logos – zu den führenden Erziehungswissenschaftlern in der NS-Zeit: E. Spranger, H. Nohl, E. Weniger und P. Petersen, Weinheim 2003.

13 Hilf mit!, Heft 1, 1935, S.23. Faksimiliert in Ortmeyer, Benjamin –Indoktrination – Rassismus und Antisemitismus in der Nazi-Schülerzeitschrift „Hilf mit!“ (1933-1944), Weinheim 2013, S.133.

14 Siehe Rahn, Bodo: Friedrich Avemarie: NS-Propagandist und NS-Pädagoge – Zur Entwicklung eines evangelischen Pietisten, Weinheim 2020, S. 92.

15 Siehe https://allererste.wordpress.com, Appel „Erziehung nach Auschwitz“.

Autor*innen-Info

Profilbild Benjamin Ortmeyer

Dies ist ein Gastbeitrag von Benjamin Ortmeyer

Benjamin Ortmeyer (*1952) leitete als apl. Professor von 2012 bis März 2018 die Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Publikationsschwerpunkte bilden neben einer Studie mit dem Titel „Argumente gegen das Deutschlandlied“ seine Studien zur Pädagogik in der NS-Zeit. 1996 erschien „Schulzeit unterm Hitlerbild, dann 1998 „Schicksal jüdischer Schülerinnen und Schüler in der NS-Zeit – Leerstelle der deutschen Erziehungswissenschaft? 2003 habilitierte er an der Goethe-Universität mit der Studie „Mythos und Pathos statt Ethos und Logos – zu den führenden Erziehungswissenschaftlern in der NS-Zeit: E. Spranger, H. Nohl, E. Weniger und P. Petersen“.

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