2021 jährt sich der Todestag des bayrischen Provokateurs Oskar Panizza zum 100. Mal. Eine digitale Ringvorlesung mit Begleitprogramm will neue Blicke auf den Schriftsteller ermöglichen: Wie es dazu kam und welche Chancen sich aus dem digitalen Format ergeben, erzählen uns Asst. Prof. Dr. Joela Jacobs und Dr. Nike Thurn, die das Programm konzipiert und organisiert haben. Wir freuen uns, dieses Projekt zusammen mit dem Literaturportal Bayern als Kooperationspartner zu unterstützen.
der frechste und kühnste, der geistvollste und revolutionärste Prophet seines Landes […]. Einer, gegen den Heine eine matte Zitronenlimonade genannt werden kann
Kurt Tucholsky
Ich halte es für zweifellos, daß er bald zu den besprochensten modernen Autoren in Deutschland gehören wird, – freilich auch zu den berüchtigsten.
Otto Julius Birnbaum
Entweder müßte ihm ein Scheiterhaufen oder ein Denkmal errichtet werden.
Theodor Fontane
Oskar Panizza (1853-1921) war – die vorangestellten Zitate lassen es bereits ahnen – einer der umstrittensten Autoren seiner Generation. Bereits zu seinen Lebzeiten ebenso bewundert wie umkämpft – international steckbrieflich gesucht, zensiert, angeklagt und inhaftiert –, provozierten seine Texte über seinen Tod hinaus: Nachlassverwalter verschlossen sie vor der Öffentlichkeit, Nationalsozialisten instrumentalisierten sie, Gerichte verboten sie, teils bis in die 1990er Jahre hinein.
Die breite öffentliche Anerkennung, die prominente Fürsprecher wie die oben Genannten, aber auch Kurt Tucholsky, Karl Kraus und Lion Feuchtwanger, Walter Benjamin, Theodor Lessing und George Grosz, André Breton, Heiner Müller und Arno Schmidt prophezeiten oder forderten, blieb jedoch aus. Stattdessen geriet Panizzas blasphemisches Theaterstück Das Liebeskonzil (1894, auf 1895 datiert) zu einem der größten Theaterskandale der deutschen Geschichte. Es brachte ihm die längste Haftstrafe ein, die je für ein literarisches Werk im Wilhelminischen Kaiserreich verhängt wurde.
Seine Assimilationssatire Der operirte Jud’ (1893) führte immer wieder zu Antisemitismusvorwürfen und ist nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen. Zudem verstellen seine schillernde Biografie und scharfzüngige Kritik an Kirche, Staat und Gesellschaft bis heute den Blick auf das ästhetische Potential seines Werks, während sie zugleich die bemerkenswerte Modernität seiner Texte belegen: Lange vor George Orwell und Aldous Huxley diskutiert Panizza in Die Menschenfabrik (1890) die Gefahren künstlicher Intelligenz und einer mechanisierten Zukunft. Auch die ausgrenzende Erfahrung von Menschen, die in Deutschland erst seit kurzem als „Drittes Geschlecht“ anerkannt werden, beschreibt er in Ein scandalöser Fall (1893). Und in Eine N****geschichte (1893) stellt er die Bedeutung von Hautfarben und den Rassismus seiner Zeit in Frage. In diesen Texten nimmt er bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert gesellschaftspolitische und sozialkritische Positionen ein, die bis heute nichts an Relevanz und Diskussionsbedarf eingebüßt haben.
Oskar Panizza online
Die Idee, Oskar Panizza mit einer internationalen Konferenz im Jahr des 100. Todestags noch einmal neu und interdisziplinär in den Blick zu nehmen, aktuelle Forschungen und Perspektiven zu versammeln und den Austausch zwischen junge wie etablierte Panizza-Forscher*innen miteinander ins Gespräch zu bringen, schien uns daher schnell nicht nur reizvoll, sondern geradezu überfällig.
Als wir sie vor vielen Jahren noch im Kontext unserer gerade abgeschlossenen Doktorarbeiten besprachen (siehe Nike Thurns Monographie Falsche Juden und Joela Jacobs’ Publikationen zu Panizza), dachten wir freilich noch nicht daran, dass eine weltweite Pandemie so einiges daran erschweren würde. Der erste, noch hoffnungsvolle Call for Papers ging entsprechend noch von einer Präsenzveranstaltung in München aus: Die Monacensia im Hildebrandhaus, in der große Teile von Panizzas literarischem Nachlass liegen, war mit im Boot und wir freuten uns auf intensive Tage mit Vorträgen, Diskussionen und Filmabenden in dieser schönen und für Panizza so passenden Umgebung. Wie präsent Covid-19 jedoch schon war, zeigt einer der eingereichten Vortragstitel: „Pandemizza“. Was Panizza wohl literarisch aus dieser weltweiten Ausnahmesituation gemacht hätte?
Leider wurde bald deutlich, dass es auch 2021 nicht gelingen würde, all die Panizza-Interessierten aus Australien und den USA, Österreich und der Schweiz, Israel und Serbien, die sich auf unseren Aufruf gemeldet hatten, an einem Ort versammeln zu können: Um nach den vielen Jahren der Planungen, Überlegungen und Vorbereitungen den angestrebten Austausch – und im Zuge dessen auch Aufbau eines Netzwerkes – nicht einfach wieder zu verwerfen, mussten wir umdenken. Schnell wich dabei die Enttäuschung der Begeisterung über die vielen neuen Möglichkeiten, die sich uns dank der Flexibilität der Monacensia und der durch den Wechsel in den digitalen Raum erst entstandenen neuen Kooperation mit dem Literaturportal Bayern eröffneten: Die Konferenz haben wir in eine digitale Ringvorlesung umwandeln können. Wir kommen seit April alle zwei Wochen online zu Vorträgen und Diskussionen zusammen. Diese kann man auch im Nachhinein auf unserem YouTube-Kanal anschauen und findet alle Ankündigungen auf unserer Webseite und Twitter.
Die vielfältigen Vortragsthemen reichen von Psychologie und Philosophie zu Mystik und Medizin, Fallgeschichten und Fantasie, Religion und Rebellion sowie Zensur und Zugehörigkeit. Marcel Winter von der Universität Augsburg begleitet die Reihe mit einem Podcast – und das Literaturportal Bayern bietet uns mit der bereits bestehenden Oskar Panizza-Reihe seines Blogs ein Umfeld, wie wir es uns besser nicht hätten wünschen können: eine zusätzliche digitale Möglichkeit, neue Texte zu Panizza einem großen Publikum zugänglich zu machen. Wir freuen uns sehr darauf, diese dort in loser Folge publizieren zu dürfen!
Autorinnen: Asst. Prof. Dr. Joela Jacobs und Dr. Nike Thurn
Asst. Prof. Dr. Joela Jacobs hat schon vor Jahren von einer Veranstaltung zum 100. Todestag Panizzas geträumt. Damals promovierte sie zur literarischen Groteske, einer satirischen Gattung zwischen den 1890er und 1930er Jahren, für die der Provokateur Panizza eine Leitfigur darstellt. Ihr Buch zum Thema ist in Bearbeitung, und sie forscht und lehrt zu den Zusammenhängen von deutschsprachiger Literatur und Kultur mit jüdischen Identitäten, Umweltkultur, Tier- und Pflanzenstudien sowie Sexualitäts- und Wissenschaftsgeschichte an der University of Arizona.
Dr. Nike Thurn ist dem Autor ebenfalls erstmals im Rahmen ihrer Promotion begegnet: In dem daraus entstandenen Buch ‚Falsche Juden‘. Performative Identitäten in der deutschsprachigen Literatur von Lessing bis Walser schreibt sie unter anderem über Oskar Panizzas Der operirte Jud‘, Salomo Friedländers/Mynonas Replik Der operierte Goj und literarischen Antisemitismus. Sie arbeitet am Deutschen Historischen Museum in Berlin.
Eine Einladung zum Mitmachen
Bislang erschienene Beiträge zur Oskar Panizza-Reihe sind im Literaturportal Bayern aufgeführt. Zugleich gibt es die Möglichkeit, mitzuwirken: wie, das wird unter der Rubrik „Blog“ auf der Webseite des Projekts erklärt. Unter „Programm“ stehen dort zudem alle Termine und der Anmeldungslink für die kommenden Vorträge. Wir freuen uns auf einen regen Austausch zu Oskar Panizza!