Literatur in Zeiten des Neoliberalismus: «Kunst darf nicht verzweckt werden» – Ein Gespräch zum Poetik Salon

Viele Menschen um einen Tisch mit Snacks und Getränken beim Poetik Salon.

Der Poetik Salon in der Monacensia bietet einen offenen Raum für den Austausch über die Rolle der Literatur in unserer Gesellschaft. Die Münchner Autor*innen Dagmar Leupold und Norbert Niemann erklären im Gespräch mit Rebecca Faber, warum dieser Dialog so essenziell ist, welche Verantwortung Literatur übernehmen kann und wie der Neoliberalismus Kunst, Kultur – und letztlich auch die Demokratie – bedroht.

Kunst und Literatur in Zeiten des Neoliberalismus – ein Gespräch mit Dagmar Leupold und Norbert Niemann über den Poetik Salon

Dagmar Leupold und Norbert Niemann haben den Poetik Salon ins Leben gerufen und bereits dreimal in die Monacensia eingeladen. Sie wählen Themen, Zitate und Texte aus, befragen ihre Gäste – und initiieren so einen offenen Dialog. An einer großen Tafel, bei Wein und Käse, kann das Publikum jederzeit mitdiskutieren, Fragen stellen und Kritik üben. Ein lebendiger, demokratischer Raum für den freien Austausch über Literatur und Gesellschaft.

Wie ist der Poetik Salon entstanden? Was war die Ursprungsidee?

Norbert Niemann: Die Idee ist auf einer langen Zugfahrt zusammen mit der Monacensia-Leiterin Anke Buettner entstanden. Was ich im Moment vermisse – und was früher die Feuilletons geleistet haben –, ist ein Diskurs darüber, welches Verhältnis die Literatur zur Gesellschaft hat. Wir haben festgestellt, dass es wenige Orte gibt, wo wirklich diskutiert wird.  

Dagmar Leupold: Ich gehe viel zu Literaturveranstaltungen und Lesungen. Ich höre auch gerne zu, aber es ist nicht so selten, dass ich ein bisschen unbefriedigt nach Hause fahre, weil ich ein partizipatives Moment vermisse. Das Publikum ist nur beim Signieren und Bücherkauf gefragt. Oft sind Literaturveranstaltungen wie eine Feier des Autors oder der Autorin mit vielen Inhaltsangaben und viel biografischem Hintergrund. Aber ganz selten ist es mal so, dass aus dem Buch heraus, um das es an diesem Abend geht, bestimmte Fragestellungen extrapoliert und dann diskutiert werden.

Deswegen haben wir uns für den Poetik Salon vorgenommen, dieses partizipative Moment von Anfang an stark zu machen. Wir sitzen gemeinsam um einen Tisch, und jede Wortmeldung ist sehr willkommen.

Das partizipative Moment, die Idee des Miteinander-Sprechens

Norbert Niemann: Es gibt ja auch Literaturveranstaltungen mit Diskussionsrunden. Aber ich habe oft den Eindruck, dass die Diskussion verhindert wird durch das Format der Literaturlesung. Da sitzen Leute, aufgereiht wie auf einer Hühnerstange, und jeder vertritt seine eigene Position, ohne dass man miteinander spricht. Die Idee des Miteinander-Sprechens ist verloren gegangen in den letzten Jahrzehnten. Die Idee der öffentlichen Kommunikation, des öffentlichen Diskurses in einer Demokratie, ist, dass wir nicht nur unsere Positionen nebeneinanderstellen. Sondern dass wir in der Lage sind, im Gespräch eventuell unsere Positionen zu verändern, weil wir das Argument des anderen mit aufnehmen.

Dagmar Leupold: Ich stimme absolut zu und möchte ergänzen, dass wir im Poetik Salon berücksichtigen, dass literarische Texte nicht im gesellschaftlichen Vakuum entstehen. Das heißt, sie sind nicht nur eine Hervorbringung eines individuellen Autors oder einer individuellen Autorin, sondern sie tragen eine Zeitsignatur. Sie tragen so etwas wie eine politisch soziale Signatur, und um die geht es uns auch. Wir besprechen nicht einzelne Bücher, sondern fassen Tendenzen zusammen.

Ihr arbeitet im Poetik Salon mit poetologischen Fragestellungen und Begriffen wie «Ästhetik». An den Anfang stellt ihr Texte oder Zitate, zum Beispiel von Michel Foucault, die nicht unbedingt niederschwellig sind. Ganz im Gegenteil. Mit wem wollt ihr ins Gespräch kommen?

Dagmar Leupold: Also ich würde gerne mit den Menschen, die kommen, die Interesse zeigen, die hier sind, die präsent sind, ins Gespräch kommen. Ich glaube, es ist für mich ein falscher Ansatz anzunehmen, dass man irgendwen wo «abholen» muss. Ich glaube, man sollte die Menschen, die Interesse zeigen, die einen gewissen Aufwand betreiben, irgendwo «hinbringen». Das ist für mich das viel Entscheidendere.

Wir verhandeln über komplexe Sachverhalte oder Gehalte. Und es mag einem so vorkommen, dass wir eine ganz schöne Einstiegshöhe voraussetzen, wenn man den Ankündigungstext liest. Aber ich glaube, dass man im Gespräch Fachbegriffe eben tatsächlich auch nutzen kann als etwas, das die Sache besser erschließt. Hier ist es dann wichtig, im Gespräch das Ganze zu unterfüttern mit Anschauungen und Beispielen. Und natürlich auch auf willkommene Nachfragen zu reagieren.

Ich finde das sehr beachtlich, weil euch das gelingt. Zumindest wird bei den Veranstaltungen immer sehr rege diskutiert! Ich habe wirklich das Gefühl, ihr stoßt was an im Publikum.

Literatur als Wahrnehmungskorrektiv einer Gesellschaft

Es geht viel um die Frage, welche Rolle Literatur in unserer Gesellschaft spielt, spielen sollte oder vielleicht gerade viel zu wenig spielt. Was ist eure Utopie, eure Wunschvorstellung von Literatur?

Dagmar Leupold: Also meine Wunschvorstellung wäre, dass Literatur tatsächlich das verbindende Moment ist, das sie für mich eben ist. Literatur ist für mich eine Selbstverständigungsplattform einer Gesellschaft. Das ist ein Begriff, den ich vor vielen Jahren geprägt habe und der für mich immer noch sehr wichtig ist.

Literatur kann als Wahrnehmungskorrektiv unsere Wahrnehmungsroutinen unterbrechen. Und das tatsächlich auf sehr niederschwelligem Niveau. Man kann in eine Stadtbücherei gehen, sich ein Buch von Serhij Zhadan ausleihen und ganz viel über den Ukraine-Konflikt verstehen, und zwar auf eine sinnliche Weise. Lesen ist ja nicht nur ein intellektueller Akt, Lesen ist etwas sehr Sinnliches.

Und das ist meine Lieblingsvorstellung: dass Literatur sich von der Kita bis zu welchem Schulabschluss auch immer genau so entfalten dürfte. Ganz ohne Kanon. Einfach diese Freude, die Lust am Lesen, die Lust am Reisen im Sitzen in allen Altersstufen und altersgerecht zu fördern.

Norbert Niemann: Ich würde das ganze breite Spektrum der Künste, des kulturellen Lebens zu diesem Wahrnehmungskorrektiv zählen. Ich glaube, dass die kulturelle Öffentlichkeit etwas leisten kann, was die andere – sagen wir die rein Fakten-orientierte Öffentlichkeit – nicht leisten kann. Nämlich so etwas wie Lebenswirklichkeiten über Sprache, über Zeichen darzustellen. Das ist was anderes als ein faktischer Bericht. Diese Fähigkeit von Kunst und Literatur, einen Blick in die Lebenswirklichkeiten von anderen Menschen zu werfen, ist etwas ungemein Friedensstiftendes.

Dagmar Leupold: Und es ist auch eine schöne Einübung von Toleranz. Wir begegnen in den Texten Figuren, die lebendig werden. Es sind Primärerfahrungen. Dieser Begriff ist für mich absolut zentral für alle Künste. Wir erfahren, was wir erfahren, als denkende, als fühlende und handelnde Menschen, während wir in der Wissenschaft in erster Linie kognitiv gefordert sind. Aber in der Literatur haben wir eben als Leserinnen die Möglichkeit, Milieus zu besuchen. Uns umzuschauen und dabei nicht sofort manipuliert zu werden.

Norbert Niemann: Die Lebenswirklichkeitsebene, die Erfahrung ist das eine. Es gibt aber auch noch die Sprachfindungsebene, die oftmals vergessen wird. Die Sprache ist ja nichts Fixes. Sprache ist etwas, das sich ständig auch verbraucht. Das heißt, sie stellt Dinge fest in einer bestimmten Art und Weise. Sie hat eine Neigung dazu, uns auch blind zu machen. Und die Künstler und Künstlerinnen sind stotternde Menschen, wenn man so will, die versuchen, für etwas, wofür es noch keine Sprache gibt, eine Sprache zu finden. Das ist auch ein entscheidender Punkt, warum man sich mit Literatur beschäftigen sollte: Weil wir immerzu keine Sprache für die Gegenwart haben.

Da klingt jetzt ganz stark raus, dass Kunst und Literatur auch etwas Unfertiges haben dürfen, ein Versuch sein dürfen. Das steht im Gegensatz zum Produkt Buch, dem fertigen Roman, den man kaufen kann. Das ist immer wieder Thema im Poetik Salon.

Eberhard Falcke, Dagmar Leupold und Norbert Niemann angeregt im Gespräch miteinander im Poetik Salon.
Poetik Salon zum Thema Kritik in der Krise mit Gast Eberhard Falcke, daneben Dagmar Leupold und Norbert Niemann © Mario Steigerwald

Literatur und der Literaturmarkt – Die Gefahr von Mainstream und Monokultur

Könnt ihr erklären, was das für ein Spannungsverhältnis ist zwischen, ja, Kunstfreiheit und dem Markt?

Dagmar Leupold: Es ist ein Spannungsverhältnis, wobei ich nicht behaupten würde, dass es ohne Markt geht. Das ging es noch nie. Es gibt aber im Moment einen Markt, der zu Monokultur neigt oder – anderer Begriff – zu Mainstream. Den gab es auch immer. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Das koexistiert auch in den Individuen selbst sehr friedlich miteinander. Ich sage es jetzt etwas zugespitzt: Man kann irgendwas Triviales lesen, sich wunderbar fühlen und dann zu etwas völlig anderem greifen. Das muss man überhaupt nicht abschaffen wollen.

Aber der Markt tendiert dazu, dieses Delta, die ganzen vielen kleinen Flussärmchen abseits des Mainstreams, zu vernachlässigen. Ich meine zum Beispiel Genres wie Essays, Erzählband, Lyrik. Die existieren heute noch in einer Weise, dass man sich massiv selbst ausbeuten muss, um sie zu betreiben. Und das sehe ich eben als Schrumpfungsprozess, als Tendenz zur Monokultur.

Leser*innen sind Menschen mit Welterschließungsneugier und keine Konsumenten

Das bedeutet dann auch, dass man als Leser oder Leserin eingepasst wird, in lifestylige Milieus, die man ohnehin schon kennt und die sich dann in redundanter Weise in der Lektüre verdoppeln und affirmieren, reine Geschmacksverstärkung. Da wird man nicht mehr herausgefordert zu subtileren Antennen und einem Nachspüren von Lebenswirklichkeiten, die sich nicht mit den eigenen decken. Das ist der Sinn von Algorithmen: Sie sind immer wirklich zugeschnitten auf mich als Konsumentin. Ich sehe aber Leserinnen und Leser nicht als Konsumenten. Ich sehe sie als Menschen, die partizipieren möchten, Erfahrungen machen möchten. Als Menschen mit Welterschließungsneugier.

Norbert Niemann: Ich bin damit total d’accord und möchte ergänzen: Es gibt einen Unterschied zwischen dem alten Markt, wie ihn Karl Marx beschrieben hat, dem Kapitalismus, und dem neuen Markt, dem Neoliberalismus. Im Neoliberalismus hat der Anteil von Aufmerksamkeitsökonomie stark zugenommen und ist zentral geworden – auch für die Politik. Der Begriff kommt erst mal aus der Wirtschaft, genauer aus der Werbung. Werbung hat diese Sucht-verbreitende oder Bedürfnis-erzeugende Wirkung gehabt, mit Sprüchen, die jetzt von der Politik verwendet werden. «Yes, we can» ist ein vollkommen inhaltsfreier Satz, der nur auf Emotion setzt.

Dazu kommt, dass dieses neue Aufmerksamkeitskonzept, das erst ungefähr ein Vierteljahrhundert alt ist, Menschen etwas entzieht oder zu etwas erzieht. Werbung, Algorithmen, Markttrendforschung usw. erschließt Menschen nach unterschiedlichen Kriterien, Bedürfniskategorien. Letzten Endes konsumieren sie nur noch Dinge, nehmen überhaupt nur noch Dinge wahr, die ihnen nach diesen Kriterien zugespielt werden.

Das wirkt auch zurück, auf unsere Wahrnehmung, unser Begehren. Das ist der brutale, neue Kapitalismus. Der alte Kapitalismus hat unsere Arbeitskraft ausgebeutet. Der neue Kapitalismus, der neoliberale Kapitalismus, den wir jetzt haben, beutet unser Begehren aus. Und da müsste die Kultur eigentlich der große Gegenpol sein, denn in der Kultur ist die eigentliche Widerständigkeit gegen diese Ausbeutung drin.

Ich spüre, dass ihr Neoliberalismus, den neuen Markt, als Bedrohung empfindet.

Dagmar Leupold: Also ich weiß nicht, ob ich Bedrohung sagen würde, aber ich würde schon sagen, dass ich einen bevorstehenden Verlust befürchte.

Slata Roschal und Norbert Niemann lachend im Gespräch an einem Tisch.
Erster Poetik Salon mit Slata Roschal als Gast, daneben Norbert Niemann © Monika Schreiner

Die Fragmentierung der Gesellschaft

Dagmar Leupold: Es gibt eine ungeheure Fragmentierung und Versprengung von tausend kleinen Öffentlichkeiten. Es gibt eine starke Tendenz, nicht zuletzt über die Identitätspolitik der letzten Jahre, Partikularinteressen zu isolieren und so etwas wie Allianzen eigentlich zu verhindern. Die Allianzen, die jenseits von Zuschreibungen einzugehen wären. Und das ist garantiert eine politische Wirkungslosigkeit, wenn man diese Allianzen nicht mehr schließen kann. Literatur oder die Künste überhaupt sind für mich eine Einladung, über solche Allianzen nachzudenken, völlig unabhängig von der physischen, psychischen, emotionalen Entität des Autors oder der Autorin. Das ist für mich gefährlich für offene westlich demokratische Gesellschaften, für die es auch noch tausend andere Bedrohungen gibt.

Also wenn wir sozusagen nur noch im Geschirr gehen, wo jeder das «Geklonte»‚ das auf seine Bedürfnisse Zugeschnittene zur Kenntnis nimmt und drumherum nichts mehr – dann geht man im Geschirr. Das finde ich gefährlich.

Norbert Niemann: Ich finde es gerade extrem bedrohlich. Diese vielen Radikalisierungen, die wir heute erleben, letztlich diese Zunahme der Kriegstendenz, diese allgemeine Feindschaft, dieses Sich-Abgrenzen und Sich-Nicht-Verstehen. Dieses Sich-Bekämpfen, sich kaputt machen mit Lügen usw. Das hat, glaube ich, auch ganz stark damit zu tun, dass diese Grenzziehungen zwischen Menschen durch den Neokapitalismus so betont werden. Menschen sind eigentlich nur noch passive Objekte, die von bestimmten Meinungen und Bedürfnissen gekrallt werden. Und dann komplett unversöhnlich nebeneinanderstehen.

Habe ich das richtig verstanden: Ihr meint, dass Konsum, Neoliberalismus, verschobene Aufmerksamkeitsökonomie dazu führen, dass Ambivalenzen oder Ambiguitäten nicht mehr ausgehalten werden? Dass es nur noch Grabenkämpfe in öffentlichen Diskursen gibt und man entweder auf der einen oder auf der anderen Seite stehen muss?

Dagmar Leupold: Ganz genau. Und es gibt auch keine geteilten Referenzen mehr. Ich will jetzt auf keinen Fall den Kanon verteidigen oder irgendeinen Bildungsbegriff von vorgestern wieder einführen. Trotzdem wäre eine Öffentlichkeit, in der es viele geteilte Referenzen gäbe, auf die sich viele jenseits von Zuschreibungen beziehen könnten, hilfreich. Erstens als Einübung von Toleranz, wie ich vorhin schon gesagt habe. Zweitens weil man dann nicht so leicht jemanden als Feind oder als irgendwas markieren könnte, von dem man über das Medium Kultur – Kunst – schon ganz viel in Erfahrung gebracht hätte, und zwar ohne das gleich selbst orchestrieren oder moderieren zu müssen.

Lesen ist zunächst einfach mal ein sehr friedlicher und einsamer Akt, und trotzdem ist er immer partizipativ für mich. Das Sprechen über Literatur ist es dann noch mal verstärkt.

Und wenn ich mir angucke, was an Kürzungen geplant ist … Dann ist es genau die Blindheit gegenüber genau diesen Gefahren, über die wir hier sprechen. Es ist eine solche Milchmädchenrechnung. Es wird zwar immer rhetorisch in den großen Sonntagsreden gesagt, «Kultur ist das Bindemittel von Gesellschaften», aber die Umsetzung davon ist tatsächlich mangelhaft.

Norbert Niemann: Ich möchte gerne noch mal auf diesen Aufmerksamkeitsökonomie-Begriff zurückgreifen. Aufmerksamkeitsökonomie läuft darüber, dass sie nicht über Argumente arbeitet, sondern über Emotionalisierungen. Das ist der entscheidende Punkt. Wir sind in einer kulturellen Öffentlichkeit, die alles und jedes emotionalisiert, statt zu argumentieren.

Ein geteilter Raum ohne Wettbewerb, ein οἶκος

Norbert Niemann: Der Witz ist, dass wir nicht mal mehr die Orte haben, wo wirkliche Diskurse, Meinungsbildung noch stattfinden können. Dass sich irgendwo an den Stammtischen Leute gegenseitig bestätigen, dass sie alle dagegen sind, dass die Demokratie scheiße ist, oder was weiß ich denn was, ist das eine. Aber zum Beispiel die Idee der Nachkriegszeit, öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen einzurichten – und auch die Vorstellung, dass dieser Raum existieren muss als vierte Gewalt –, das ist etwas, was wir verspielen, dadurch dass wir diese Emotionalisierung immer weiter vorantreiben. Da liegt für mich die Bedrohung.

Viele Menschen um einen Tisch mit Snacks und Getränken beim Poetik Salon.
Poetik Salon zum Thema Kritik in der Krise. An der Stirnseite die Gastgeber*innen Dagmar Leupold und Norbert Niemann © Mario Steigerwald

Das hast du für mich noch mal sehr klar auf den Punkt gebracht. Im Poetik Salon erschafft ihr einen solchen Raum der Argumentation, der Meinungsbildung, der wirklichen Auseinandersetzung mit den Positionen der anderen. Was wäre wichtig für größere Räume?

Dagmar Leupold: Ja, der Poetik Salon ist ein kleiner Rahmen, es ist eine Art Pilotprojekt. Und ich hoffe, dass man das dann übertragen kann, auf etwas größere Räume und umfangreichere Echos. Und es wäre sehr schön, wenn hier der Gedanke des Wettbewerbs gar nicht erst aufträte. Denn diese Emotionalisierung hat damit zu tun, dass Wettbewerb, die Kompetition in alle unsere Lebensbereiche eindringt, auch in die Liebe. Es gibt immer Konkurrenz, immer Wettbewerb. In einem Raum, der geteilt wird wie so eine Allmende-Weide – da glaube ich, dass man eher zu etwas Substanziellen vordringen kann im Gespräch, etwas miteinander verhandeln kann, als in der Situation, in der man ständig in irgendeinem Wettbewerb steht. Auch aufgenötigt, man kann sich da nicht einfach per Willenskraft davon befreien. Deswegen sind solche Formate für mich wirklich entscheidend, wirklich wichtig. Wo man das im Kleinen noch zum Gelingen bringen kann.

Norbert Niemann: Dem schließe ich mich an. Der Poetik Salon ist klein, aber man muss irgendwo anfangen. Meine Idee, meine Utopie – jetzt kommt eine Begriffsprägung von mir – wäre so etwas, wie eine kulturelle Ökologie, οἶκος ist das Haus. Das Haus, in dem alle Dinge systemisch zusammenhängen. Da gibt es die Ökonomie, die Politik, die Kultur, die Gesundheit usw. Man hat also dieses große System des Hauses, und das funktioniert nur dann wie in der biologischen Ökologie, wenn nicht irgendetwas dominiert. Unser Problem heute ist, dass die Ökonomie dieses Haus absolut dominierend bestimmt. Es ginge darum, es so zu renovieren, wie wir das gerne mit Häusern in Zeiten des Klimawandels machen: ökologisch gut sanieren. Und da, glaube ich, spielt die Kultur als eine Art Röhrensystem in diesem Haus eine ganz tragende und zentrale Rolle.

Dagmar Leupold: Ja, das ist ein gutes Bild. Vielleicht noch zwei mir sehr wichtige Stichworte. Ich denke mir Kultur als ein Wurzelgeflecht, das sehr viel und sehr viel unterschiedliches Wachstum ermöglicht und auch nahrhaft ist, wenn wir schon bei dem Bild sind. Das zweite Stichwort ist von Carl Amery: Verzweckung. Er beobachtet, dass alles verzweckt wird, die Natur und die Kultur. Und worauf ich beharren würde, ist, dass es eine Unverfügbarkeit gibt: Kunst sollte nicht instrumentalisiert werden, nicht verzweckt werden. Sie ist unverfügbar. Trotzdem steht sie uns allen zur Verfügung, aber sie ist unverfügbar. Diese Unverfügbarkeit muss geschützt werden. Um die muss gekämpft werden. Sie soll sich nicht Zwecken unterordnen. Weder der Disziplinierung noch der ideologischen Gängelung. Keinem einzigen Zweck. Jetzt nicht im Sinne von l’art pour l’art, das interessiert mich nicht, weil Kunst eben ein lebendiger fortlaufender Kommentar zu unseren Lebenswirklichkeiten ist, sie ist nicht abgehoben. Aber sie ist zweckfrei in diesem instrumentellen Sinn.

Wenn Sie mehr hören möchten oder gar mitdiskutieren möchten, dann veranstalten Dagmar Leupold und Norbert Niemann 2025 noch zwei weitere Poetik Salons in der Monacensia: Am 18. September 2025 und am 20. November 2025 jeweils um 19 Uhr. Weitere Informationen stellen wir im Newsletter oder auf unseren Social-Media-Profilen im Laufe des Jahres zusammen.

Autor*innen-Info

Profilbild Rebecca Faber

Rebecca Faber

Dr. phil. Rebecca Faber ist Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Kuratorin. Seit 2022 kuratiert sie das Literaturprogramm der Monacensia, seit 2009 ist sie in der freien Literaturszene Münchens aktiv: zum Beispiel als Organisatorin des Texttreffens, Kuratorin der Lesereihe LIX und Vorstandsmitglied des Vereins Unabhängige Lesereihen e.V.

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