Autonome Archive – passt das überhaupt? Was soll an ihnen autonom sein? Das fragt Dr. Kerstin Wolff, Forschungsleiterin des Archivs der deutschen Frauenbewegung (Addf), für unsere Vernetzungsaktion „Autonome Räume“ #PopPunkPolitik*. Das AddF entstand aus der Neuen Frauenbewegung, die Frauen- und feministische Projekte hervorbrachte. Die Idee der Autonomie besaß für diese zwei Stoßrichtungen. Was trifft davon auf das AddF zu? Was weicht ab? Und …
Kann ein Archiv ein autonomer Ort sein?
Die Frage scheint sich nicht zu stellen, schließlich ist ein Archiv ein öffentlicher Raum. Ein Raum mit Öffnungszeiten, finanziert von der öffentlichen Hand, mit strikten Hierarchien und Zuständigkeiten. Aber ist das tatsächlich in allen Fällen so?
Ein Blick in die freie Archive-Szene zeigt sofort, dass es nicht so einfach ist. Archive sind vielfältig, sie sind bunt und sie können … autonom sein! Das Afas, das Archiv für alternatives Schrifttum, hat zum Beispiel eine Liste der Freien Archive auf seiner Homepage veröffentlicht. Hier ist zu lesen, dass sich in der Liste „Hinweise zu den Standorten und Beständen von Archiven, Bibliotheken und Dokumentationsstellen der Neuen Sozialen Bewegungen“ befinden „soweit sie aus den Bewegungen heraus entstanden und eigenständig organisiert sind“.[1]
Autonome Archive sammeln also die Erinnerungen an soziale Bewegungen und sie sind vor allem aus diesen entstanden. Damit haben diese unsere heutige Gesellschaft nachhaltig geprägt und verändert – gerade deshalb, weil sie autonom waren und, meine These, sind! Um das zu beweisen, möchte ich eine kleine Zeitreise in die 1970/1980er Jahre antreten – in eine Zeit, die als die Hochzeiten von Neuen Sozialen Bewegungen gilt.[2]
Das Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel (AddF) und die Neue Frauenbewegung
Am 8. März 1984 war es so weit. Pünktlich zum Internationalen Frauentag öffnete das AddF erstmals seine Tür. Was die Nutzerinnen – zu Beginn war der Zugang auf Frauen beschränkt – erwartete, waren Akten, Bücher, Fotos und Sammlungen zur Geschichte der Frauenbewegung. Den Gründerinnen war bei ihren eigenen Forschungen klar geworden, dass die Unterlagen dieser Bewegung nicht gesammelt worden waren. Daher musste jede (Frauen-)Generation wieder von vorne beginnen, wollte sie ihre eigenen Vorfahrinnen kennenlernen. Mit diesem historischen Zuschnitt (gesammelt wurden und werden bis heute Materialien aus der Zeit zwischen 1800 und 1970) war und ist das AddF bis heute einzigartig in Deutschland.
Dass es zu einer solchen Initiative in Deutschland überhaupt kommen konnte, ist sehr eng mit den Vorstellungen, Ideen und Wünschen der Neuen Frauenbewegung in Deutschland verknüpft. Diese beeinflusste ab 1968 die gesellschaftliche Situation – nicht nur von Frauen – erheblich. Die Neue Frauenbewegung speiste sich aus zwei Quellen:
- aus der Kritik an den männer- und theoriezentrierten linken Debatte innerhalb der Studentenproteste sowie die marginale Rolle, die Frauen in ihr spielten,
- aus dem Kampf um weibliche Selbstbestimmungsrechte in Bezug auf Abtreibung. So sind die auf dem SDS Kongress in Frankfurt am Main von Sigrid Rüger geworfenen Tomaten und die Straßenaktionen gegen den § 218 zum Sinnbild der Neuen Frauenbewegung geworden.[3]
Im Gegensatz zur Alten Frauenbewegung, die sich in Vereinen, Dachverbänden und (inter)nationalen Netzwerken organisierte, verstand sich die Neue Frauenbewegung als autonom. Dies bedeutete nicht nur, dass sie eine feste Organisationsform ablehnte. Vielmehr besaß die Idee der Autonomie eine doppelte Stoßrichtung,
nämlich Selbstorganisation und Separierung innerhalb der studentischen Bewegung, aber auch vom Staat bzw. etablierten Institutionen.[4]
Dieser Idee folgend, entstanden bald selbstverwaltete, autonome Frauenräume, eine Gegenöffentlichkeit, die stark lokal ausgeprägt war und eigene Regeln entwickelte.
In diesen Räumen war Platz für eigene Utopien, aber auch Planungen von konkreten Aktionen und Projekten. Es entstanden die ersten Frauenzentren – später Frauen/Lesbenzentren –, in denen Frauenhäuser geplant, Demonstrationen gegen den § 218 organisiert, feministische Lesekreise abgehalten und Gesprächskreise initiiert wurden.
Frauenprojekte-Phase und Feminismus
Ab spätestens 1977 trat die Neue Frauenbewegung in die Frauenprojekte-Phase ein. Viele Aktivistinnen wollten nicht nur von Demonstration zur nächsten Kampagne denken, sondern langfristig für Frauen selbstverwaltete und selbstfinanzierte Räume schaffen. In dieser Zeit entstanden langfristig angelegte feministische Projekte wie
- Frauencafés und -kneipen,
- Frauenbuchläden,
- Frauenverlage,
- Gesundheitszentren,
- Beratungsstellen und
- Frauenbewegungsarchive und -bibliotheken.
Bei der Etablierung von feministischen Projekten ging es um mehr als allein darum, gemeinsam mit Frauen für Frauen etwas aufzubauen. Das feministische Projekt hatte auf der einen Seite den Anspruch zu versuchen, Ideen der Frauenbewegung an die Frau zu bringen,[5] und auf der anderen Seite, sich ökonomisch weitgehend selbst zu unterhalten. Das hieß auch, dass versucht werden sollte, die Arbeit einer oder mehrerer im Projekt arbeitender Frauen zu finanzieren. Darüber hinaus bestanden ebenfalls Ansprüche an die Arbeitsorganisation: Die Arbeit sollte möglichst von einer Gruppe geleistet werden, die gemeinschaftlich entschied und das finanzielle Risiko gemeinschaftlich trug.
Als es am 8. März 1984 zur offiziellen Eröffnung des Archivs der deutschen Frauenbewegung kam, kamen somit zwei Faktoren zusammen:
- die Bereitschaft von Frauen, in autonomen Projekten „die Sache der Frauenbewegung an die Frau zu bringen“,
- ein ebenfalls aus der Frauenbewegung heraus entstandenes Bewusstsein für die erste, die alte Frauenbewegung und deren Wichtigkeit nicht nur für die Geschichtswissenschaft.
Das Archiv der deutschen Frauenbewegung ist somit seit seiner Gründung eine direkte Folge der Neuen Frauenbewegung, ein autonomer Ort und ein Frauenprojekt.
Ist das AddF immer noch ein autonomer Ort?
Zugegeben, das AddF hat sich in seiner nunmehr fast 40-jährigen Geschichte sehr verändert. Dies kam einerseits durch die gesellschaftlichen Entwicklungen, die auch die Frauenbewegung als soziale Bewegungmit beeinflusste; das hatte und hat aber auch inhaltliche bzw. arbeitstechnische Gründe. Zu Beginn formulierten die Mitarbeiterinnen:
Die Frauen verstehen sich als ein autonomes und feministisches Archiv. Das sind Ansprüche, die nicht nur theoretisch postuliert, sondern auch praktisch gelebt werden sollen. Für die Frauen heißt das, daß sie sich nicht nur über Arbeitszusammenhänge treffen und verständigen, sondern auch über Beziehungen.[6]
Dieser Anspruch hat sich inzwischen in eine Richtung verändert, die stärker das gemeinsame professionelle Miteinander in den Mittelpunkt stellt. Waren zu Beginn des Archivs alle für alles zuständig, hat sich heute eine klare Arbeitsteilung und eine Professionalisierung der Arbeitsgebiete herauskristallisiert. Im Gegensatz zu anderen Frauenprojekten, die sich sehr lange gegen „Staatsknete“ gewehrt haben, hat das AddF von Anfang an auf eine verlässliche Finanzierung durch die öffentliche Hand gesetzt. Heute wird das AddF von der Stadt, vom Land und über Projekte auch vom Bund finanziert. Zudem besitzt es mit den „Freundinnen des Archivs der deutschen Frauenbewegung“ einen engagierten und finanzstarken Förderinnenverein. Ist das AddF deshalb kein autonomer Ort mehr?
Oberflächlich betrachtet ist von den Ansprüchen der Gründerinnen nicht mehr viel geblieben – die Zeit des absoluten DIY und alle machen alles in unbezahlter Arbeit ist vorüber. Aber es gibt nach wie vor Strukturen, die ihre Wurzeln in den Ansprüchen der Neuen Frauenbewegung haben. Dazu gehören flache Hierarchien und das Bewusstsein, das Gedächtnis an eine Bewegung wachzuhalten, ebenso wie das Grundverständnis, nach wie vor ein autonomer Ort zu sein:
- Ein Ort, der immer noch für Frauenbewegung offensteht, in dem Diskussionen über Selbstverständnis und Ortsbestimmungen ebenso stattfinden können wie die Planungen von ganz konkreten Aktionen.
- Ein Ort, der zwar wie ein „ganz normales Archiv“ aussieht, an dem aber die zugrundeliegenden autonomen Ideen eines Frauenprojektes „Sinn machen“.
- Ein Ort, in dem Offenheit und Autonomie in der Sammlungspraxis existenziell ist, was sich in der Vielzahl der Bestände und ihrer Diversität zeigt.
- Ein Ort, der die Gesellschaft immer wieder daran erinnert, dass nur mit und in autonomen Räumen eine bunte Gesellschaft entstehen kann.
Archiv der deutschen Frauenbewegung – AddF
Gottschalkstraße 57
34127 Kassel
info(at)addf-kassel.de
www.addf-kassel.de
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Gastbeiträge des AddF zur Blogparade #femaleheritage bei uns im Blog:
- Dr. Kerstin Wolff, Prostitution um 1900 – Anna Pappritz und der Abolitionismus (24.11.2020)
- Mirjam Höfner, Dr. Dorothee von Velsen (1883-1970): #femaleheritage und #sichtbarmachen (12.01.2021)
[1] Siehe: http://afas-archiv.de/verzeichnis-freier-archive/ (Abgerufen am 1.12.2021)
[2] Eine Einschätzung zu Neuen Sozialen Bewegungen und ihre Verknüpfung mit anderen Protestformen vor den 1970er Jahren findet sich in: Philipp Gassert: Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945, Bonn 2019.
[3] Zum Verlauf der Neuen Frauenbewegung siehe z. B.: Herrad Schenk: Die feministische Herausforderung, 150 Jahre Frauenbewegung in Deutschland, München 1981; Kristina Schulz: Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968-1976, Frankfurt am Main 2002; Elisabeth Zellmer: Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München, München 2011.
[4] Ute Gerhard: Frauenbewegung, in: Roland Roth / Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt am Main 2008, S. 203.
[5] Nach Herrad Schenk, a.a.O., S. 94.
[6] Marianne Schmidbaur: Profil des Archivs der deutschen Frauenbewegung, zusammengestellt für das 5. Historikerinnen-Treffen in Wien, in: Karin Schatzberg: Sicherung und Weitergabe von weiblichem Wissen – zur Arbeit von Frauenarchiven und Frauenbibliotheken. Ein Überblick, in: Frauenforschung, Informationsdienst des Forschungsinstituts Frau und Gesellschaft, 2. Jg., Hft. 3, S.1-39, hier S. 19.
Die Vernetzungsaktion ist Teil von #PopPunkPolitik Vol. 2 – unserem digitalen Programm, das wir auf der Microsite zur Ausstellung in der Übersicht spiegeln. Schaut rein!