Leben und Wohnen im Hildebrandhaus – Julian Nida-Rümelin erinnert sich an seine Jugend im Hildebrandhaus. Wer lebte mit ihm unter einem Dach und wie sah das Forum Atelier damals aus? Wie wurde das Hildebrandhaus gerettet, bevor es zum literarischen Gedächtnis Münchens wurde? Ein Beitrag zur Dauerausstellung „Maria Theresia 23. Biografie einer Müncher Villa“.
Das Hildebrandhaus war von Anbeginn seiner Existenz ein Künstlerhaus. Es wurde von Adolf von Hildebrand (1847–1921) nach eigenen Plänen am Isarhochufer an der Maria-Theresia-Straße erbaut. Der bedeutende Bildhauer wurde in Deutschland in nationalistischem Überschwang gelegentlich wegen seiner Orientierung an alt-griechischer Plastik und italienischer Renaissance als zu wenig deutsch gescholten wurde und arbeitete seit 1874 in der Villa di San Francesco di Paola in Florenz.
Ab 1898 wurde das Hildebrandhaus von ihm, seinen Gehilfen und seinen Kindern – speziell den beiden Künstler-Töchtern Irene und Elisabeth (mit eigenen Ateliers im oberen Stockwerk) – genutzt. Es blieb bis 1970 Arbeitsstätte und Lebensraum zahlreicher Künstler und einiger Nachkommen der Familie Hildebrand.
Das Hildebrandhaus – Erinnerung an Kindheit und Jugend von Julius Nida-Rümelin
Im Hildebrandhaushabe ich die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens zugebracht. Mein Vater arbeitete seit Kriegsende im großen Ausführungsatelier Adolf von Hildebrands. Es hatte eine unmittelbare Verbindung zu einem kleineren Entwurfsatelier und zu dem vorgelagerten Porträtatelier. Das Ausführungsatelier, im Wesentlichen heute das Forum Atelier, hatte einen Grundriss von 12 mal 12 Metern und eine Höhe von 7 Meter 50, mit dem großen Nordfenster zur Siebertstraße und einem gigantischen Tor zum Innenhof, das sich bis zur Decke erstreckte. Im Atelier waren längs und quer Schienen angebracht, auf denen man einen eisernen Lastenkarren bewegen konnte, und von der Decke hing ein wuchtiger, auf einer Schiene beweglicher Flaschenzug, der auch große und schwere Plastiken bewegen konnte.
Mein Vater Rolf Nida-Rümelin (1910–1996) hatte sich in der Nachkriegszeit in einer Ecke des Ateliers hinter einem Vorhang mit Bollerofen und einer Couch eingerichtet. Dies hätte so weitergehen können – wenn es bei seiner damaligen Lebensplanung als allein lebender freier Künstler geblieben wäre. Dann aber trat eine achtzehn Jahre jüngere, rehäugige Schöne aus bürgerlichem Haus, Margret Ploeger (1928–2019), in sein Leben. Zunächst zog sie heimlich, da noch unverheiratet, bei ihm ein. Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete sie im Deutschen Museum als Bibliothekarin, später als Leiterin des Forschungsinstituts. Wenn der damalige bayerische CSU-Kultusminister Alois Hundhammer zu Porträtsitzungen erschien, musste sie das Atelier verlassen, um der Missbilligung des streng katholischen Politikers zu entgehen. 1951 heirateten die beiden. Drei Jahre später wurde ich und weitere drei Jahre später meine Schwester Martine geboren.
Mein Vater baute in das große Atelier eine kleine Wohnung, die auf Holzstelzen stand, damit man darunter Material lagern konnte, mit zwei Zimmern von 4 mal 4 Metern und einer Wendeltreppe, mit winziger Küche und winzigem Bad (s. Fotos). Ich habe mich in dieser Wohnung, in der jeder Quadratzentimeter genutzt wurde, in dem Betten und Tische eingeklappt werden konnten, Einbauschränke jede Nische nutzten und der Rest mit Bücherregalen übervoll war, nie beengt gefühlt – obwohl meine Körpergröße in meinen letzten Jugendjahren in einem Teil der Wohnung die Zimmerhöhe übertraf.
Im Gegensatz zur peniblen, miniaturisierten Ordnung der Einbauwohnung, die nur über eine abnehmbare Stiege erreichbar war, wurde das große Atelier jedenfalls äußerlich vom Chaos der Gerüste, der Gipsplastiken, der Holzablagen, der Steinwerkzeuge und -platten, von Schraubstöcken, Gasbrennern, Papierrollen mit Entwurfsskizzen, Portraitbüsten, Tonkisten, Wachsplatten beherrscht (s. Foto).
Mein Vater fand in diesem Chaos dennoch immer zuverlässig, was er suchte. Er verbrachte einen Großteil seines Arbeitslebens auf einem kleinen Hocker, vor sich einen robusten Holztisch mit Wachsplatten, oder stehend am Gerüst, gelegentlich auch über Wochen schlagend an dunklen Marmorplatten mit entsprechender Staubentwicklung. Da er zudem ein Kettenraucher war, kann ich mit Sicherheit davon ausgehen, dass in diesem Atelier alle heutigen Grenzwerte für Nikotin- und Feinstaubbelastung regelmäßig überschritten wurden. Abends versammelte sich bei uns zu Hause oft ein heftig diskutierender Kreis von Intellektuellen, Künstlerfreunden, Schriftstellern und Architekten.
Leben und Wohnen im Hildebrandhaus
Im Haus werkten zwei alte Herren: im oberen Stock in einem kleineren Atelier ein Künstler, dessen Name ich als „Herr Fritz“ in Erinnerung habe, meist in kurzen Lederhosen, sowie Theodor Georgii (1883–1963), ein baumlanger ernster Bildhauer und Schwiegersohn Adolf von Hildebrands, der als sein wichtigster Schüler gilt. Später kam der damals noch junge Künstler Martin Mayer (1931–2022) als unmittelbarer Ateliernachbar meines Vaters hinzu. Ich erinnere mich an Silvie Treppesch, eine Nenntante unserer Familie, Tochter von Georgii, erzkatholisch wie auch der während der NS-Zeit in die USA emigrierte Sohn Dietrich von Hildebrand (1889–1977). Der phänomenologische Philosoph hatte die Künstlervilla nach dem Tod seines Vaters 1921 zu einem Zentrum katholischer und philosophischer Intellektualität gemacht.
Häufig waren die Klavierübungen der Pianistin Rosl Schmid (1911–1978) zu hören, eine energische Dame, die bei Problemen regelmäßig zu meinem Vater eilte, der den Ruf hatte, alles Handwerkliche oder Technische im Haus rasch in Ordnung bringen zu können. Ich erinnere eine alleinstehende Dame mit einer Tochter mit Trisomie, die mit uns regelmäßig spielte, an die Familie Fickenscher, die die schönste Wohnung im Hildebrandhaus mit der großen Terrasse und dem Garten zu den Isaranlagen bewohnte, in der ich in der kurzen und wenig erfolgreichen Zeit meines Spinetunterrichts am Flügel üben dufte, der in unserer Wohnung auch in der Schrumpfform eines Klaviers keinen Platz gehabt hätte, auch an die Musikerfamilie Ruoff.
Verkauf und Rettung des Hildebrandhauses
Ich war zu jung, um die Vorgänge wirklich beurteilen zu können. Aber doch alt genug, um zu verstehen, dass mit der Entscheidung der Evangelischen Landeskirche Mitte der 1960er-Jahre, dieses Haus möglichst gewinnbringend zu verkaufen, eine existenzielle Krise ausgebrochen war, die nicht nur meinen Vater, von Haus aus eher von stoischer Ruhe, erfasst hatte, sondern auch die anderen Mitbewohner. Ein komplexes Gewebe aus Bildungsbürgertum, Kunstschaffenden und Intellektualität geriet ins Wanken, und viele im Haus machten sich existenzielle Sorgen.
Mein Vater war auf einmal nicht mehr nur mit seiner Arbeit, sondern auch mit der Organisation des Widerstands gegen Entmietung und Abriss beschäftigt. Es gab in der Endphase des Kampfes um den Erhalt des Gebäudes Bestrebungen meines Vaters, zusammen mit dem Kunsthistoriker Prof. Wolfgang Braunfels (1911–1987) zu kaufen, was aber dann am Ende doch an den begrenzten Finanzen sowohl des Kunstprofessors als auch meines Vaters scheiterte.
Es war dann das Bayerische Denkmalschutzgesetz, 1973 vom Landtag verabschiedet, das das Haus rettete, jedoch nur noch als Bauhülle und nicht mehr als Künstlerhaus. Wir waren die letzten, die die Künstlervilla Ende 1970 verlassen haben. Die Büsche wuchsen schon auf dem Dach, und der aktuelle Eigentümer ließ das Haus verkommen. Die Stadt erwarb die Künstlervilla für den fünffachen Betrag, zu dem sie es einige Jahre zuvor hätte kaufen können, und entschied die heutige Nutzung als Archiv und Bibliothek für Werke über München und von Münchner Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
Der damalige Kulturreferent Jürgen Kolbe bezog das obere Stockwerk des Hauses. Er erwies sich als massiver Gegner aller Bestrebungen, an die Künstlerhaustradition anzuknüpfen und – wie ich mit einer Initiativevon Unterstützern aus der Kunst- und Kulturszene (auch der Akademie der Schönen Künste) und der Landespolitik in den 1980ern vorschlug – in Gestalt einer kleinen Villa Massimo Künstlerinnen und Künstler, auch Intellektuellen und Schriftstellerinnen aus aller Welt den Aufenthalt in diesem dafür ideal geeigneten Gebäude mit Stipendien zu ermöglichen. 1986 folgte der Münchner Stadtrat jedoch nicht diesem Vorschlag, sondern entschied sich für die heutige Nutzung des Hildebrandhauses.
Immerhin wurde das wunderbare Gebäude gerettet, und die aktuelle Nutzung hat das Hildebrandhaus wieder zu einem kulturellen Zentrum der Stadt ganz neuen Inhaltes werden lassen. Die Erfahrungen mit einer – jedenfalls in dieser Angelegenheit – verstörend inkompetenten Kulturpolitik der Stadt und der zynischen Ignoranz der Evangelischen Kirche haben dazu beigetragen, dass ich viele Jahre später bereit war, für einige Zeit von der Wissenschaft in die Kulturpolitik zu wechseln.