Gabriele Tergit: Gerichtsreporterinnen, P.E.N.-Sekretärin, Bestsellerautorin | #femaleheritage

Gabriele Tergit, 1926 / Copyright: Jens Brüning

Sie war eine der ersten Gerichtsreporterinnen der Weimarer Republik, P.E.N.-Sekretärin und Bestsellerautorin: Gabriele Tergit (1894–1982). Selbstsicher bewegte sie sich in der Männerdomäne Journalismus, schrieb drei Romane, musste als Jüdin vor den Nazis ins Exil fliehen und geriet dann in Vergessenheit. Ein Beitrag zur Blogparade #femaleheritage von Lora Lalova.

Gabriele Tergit: „Sensorium femina“ – das Gespür einer Frau

Gedankengänge

„Wann werden wir aufholen?“, fragte ein Komiker im Fernsehen der 1990er Jahre. Nachdem ich schon einige Jahre wehende Fahnen der Demokratie, Victory-Zeichen und „Just Do It“-T-Shirts des amerikanischen Labels Nike miterlebt hatte, besuchte ich das Fremdsprachengymnasium meiner mittelgroßen Stadt in einem kleinen osteuropäischen Land. Hier lernte ich fleißig Deutsch, um in Deutschland studieren zu können. Dann werde ich es geschafft haben, dachte ich.

Doch nein, mit meinem Studium in Deutschland fing erst das Aufholen an: Latein, Graecum, andere Fremdsprachen, westlicher literarischer Kanon. Schon immer ein wissbegieriger Mensch, fragte ich mich ständig: „Wann werde ich aufholen? Wann werde ich dieses Gefühl, Letzte zu sein, von mir abschütteln können?“

Kein Mensch kann stets Erster auf der Laufstrecke sein. Irgendwann stolpert er, allein des Laufens wegen. Allein des Laufens willen soll dann der Letzte noch am Laufen sein. Und dann kann es passieren, dass sich beide Läufer treffen. Mir dieses Motto zu erarbeiten hat mich beinahe zwei Jahrzehnte gekostet, immer noch laufend, immer noch in Deutschland.

Stets habe ich mir Leitfiguren gesucht, die mich auf meiner Laufstrecke mit einem wissenden Lächeln beschenken. Während ich an diesem Beitrag schreibe, wird Gabriele Tergit eine neue Leitfigur für mich.

Gabriele Tergit startete hoch, lief unter den ersten und stolperte mehrmals an Hürden, die nur ersten Läufern gestellt werden. Sie stand immer wieder auf und lief weiter. Des Laufens willen.

Sensorium femina

Was mir an Gabriele Tergit auf Anhieb gefiel, ist wie sensorisch-solide sie sich in einer Männerdomäne, dem Journalismus der Weimarer Republik in Berlin, bewegt hat. Mit echtem Sensorium femina, wie mir scheint.

Die 1894 in einem zur Kulturelite gehörenden jüdischen Haus geborene Elise Hirschmann, verh. Reifenberg, nimmt ihr Pseudonym Gabriele Tergit noch in der Studienzeit an. Ihr Pseudonym für die Berichterstattung ist Christian Thomasius, nach dem deutschen Juristen und Philosophen der frühen Aufklärung. Dieser hat  wesentlich zur Abschaffung der Hexenverfolgung und der antihumanen Folter beigetragen.

Als Journalistin schreibt Tergit Texte fürs Feuilleton. Daraus entstehen später ihre Romane, allen voran ihr Debüt „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ und „Effingers“. Durch die Auseinandersetzung mit Themen wie Berliner Menschen und Wohnverhältnisse sowie das Verhältnis der Geschlechter kreiert Tergit ihr Bild der Gesellschaft: stets typisch berlinisch – nüchtern und pointiert, mit einem sympathisierenden Blick für Tradition und einem ironisierenden für die Hektik der damaligen Zeit.

Obwohl sie häufig über Frauen schreibt, bleibt sie sachlich. Sie lamentiert nicht über die Stellung der Frauen und die weibliche Sicht.
Ihre Gerichtsreportagen schreibt sie oft aus Frauenperspektive, ohne die Faktografie der Berichterstattung weiblich zu konnotieren – die Themen erstrecken sich über ein unendlich breit gefächertes Spektrum an menschliches Fehlverhalten wie Mord und Totschlag, Affektdelikte, Raub und Betrug. Ihre Beobachtungen finden Eingang in ihre Texte. Sie legen quälende Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung als Erklärungen für Doppelmoral, Prostitution, Hörigkeit nahe, jedoch lässt Tergit ihrer Leserschaft das eigene Urteil

Text+Kritik, Zeitschrift für Literatur / Ausgabe Nr. 228 über Gabriele Tergit
Text+Kritik, Zeitschrift für Literatur / Ausgabe Nr. 228 über Gabriele Tergit

Gabriele Tergits Bild der Frau

Tergit zeichnet Frauen menschlich, ganzheitlich. Ihr Frauenbild löst sich von der Bezeichnung Neue Frau der Zwischenkriegszeit: Es gilt, die Frau zu charakterisieren, die sowohl tradierte Geschlechterrollen hinterfragt als auch ihre Moralvorstellungen neu postuliert und ihre Rolle in Beziehung, Ehe, Haushalt und Beruf umdefiniert.

Ist diese einstige Neue Frau denn so anders als die Frau heute? Oder sind die Themen die gleichen geblieben? Wenn ja, dann kann man es sich mit Tergits Worte erklären: 

Die Männer sind die gleichen geblieben, haben Konflikte, Gefahren und Ängste und Arbeit, sie legen Grundsteine, eröffnen Ausstellungen, machen Transaktionen, Pleite und gewaltige Erfindungen, geändert hat sich überall in allen Ländern der Menschheit anderer Teil, die Frau.

„Berliner Tageblatt“, 22.1.1930

Eine Frau erfindet sich

Im öffentlichen Diskurs der Weimarer Republik wird die Gender-Debatte lauthals geführt. Die alten Frauenfragen sollen demnach neue Antworten bekommen. Doch Frauen wie Gabriele Tergit lassen sich davon nicht täuschen. Sie entlarven leere Versprechungen. Sie erkennen den alten Geschlechterkampf und präsentieren ihn in seiner immerwährenden Aktualität. Die wesentlichen Neuerungen sind:

  1. das Wahlrecht für Frauen
  2. die Zulassung zum Studium, die auch Tergit für sich zu nutzen weiß. 

Auch aus heutiger Sicht ist Tergits Bildungsweg beachtenswert: Noch immer wirkt sie wie eine dynamische, selbstbestimmte, hoch emanzipierte und folglich hoch moderne Frau. Im Alter von fünfundzwanzig beginnt Tergit ihr Studium der Soziologie, Geschichte und Philosophie in München, Heidelberg und Berlin, das sie 1925 mit einer Dissertation abschließt.

Bereits zu dieser Zeit arbeitet sie als eine der ersten Gerichtsreporterinnen aus dem Kriminalgericht Berlin-Moabit und stellt ihr Können in mehreren Disziplinen des journalistischen Handwerks wie Feuilleton, Reportage und Porträt unter Beweis. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen, allen voran das „Berliner Tageblatt“. Hier ist sie seit 1924 in der Lokalredaktion angestellt ist – als Pauschalistin, eine regelmäßig beschäftigte freiberufliche Journalistin.

Bei der Leserschaft erfreut sie sich einer großen Popularität und Beliebtheit, begünstigt durch die hohen Auflagen des „Berliner Tageblatt“. Die Zeitung erscheint damals wöchentlich zwölfmal: in 160.000 Exemplaren unter der Woche und sonntags in 300.000 Exemplaren. In ein paar Jahren wird Tergit in „Spemanns Literatur-Kalender“ abgebildet werden.

1928 heiratet Gabriele Tergit den jüdischen Architekten Heinrich Julius Reifenberg und bekommt einen Sohn mit ihm. Ihr satirischer Zeitroman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ katapultiert sie 1931 in den Himmel prominenter Literaten wie Erich Kästner und Vicki Baum. Der Roman landet 1933 auf einer der ersten „Schwarzen Listen“ der Reichsschrifttumskammer.

Von hier an wird Tergits Laufstrecke holprig und rastlos. Die jüdische Familie flieht 1933 vor den Nationalsozialisten zuerst in die Tschechoslowakei und dann nach Palästina. Schließlich siedelt sie 1938 nach England über, um sich ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in London niederzulassen. Fünf Jahre großer Entbehrungen in privater, gesundheitlicher und beruflicher Hinsicht werden von einem Jahrzehnt schlechtbezahlter und sporadischer journalistischer Arbeit abgelöst.

Erst ab 1948 reist Tergit wieder zurück in die Heimat, jedoch nur alle paar Jahre zu Besuch. Den Rest ihres Lebens sollte sie im Exil verbringen, hier:

  • beinahe zwei Dutzend verschiedene Anschriften auf ihre Post schreiben
  • die Bitterkeit erleben, nicht an frühere Erfolge anknüpfen zu können, 
  • keine Loyalität seitens der literarischen Vorkriegsszene 
  • und keinen Anschluss an den Nachkriegsliteraturbetrieb finden. 

Ihr großer generationsübergreifender Familienroman „Effingers“ wird zwar 1951, mehr als ein Jahrzehnt nach Fertigstellung, endlich publiziert, jedoch ohne beachtliche Resonanz zu erzeugen. Tergits Möglichkeiten in England bleiben begrenzt, nicht zuletzt durch die sprachliche Barriere.

Gabriele Tergit, 1926 / Copyright: Jens Brüning
Gabriele Tergit, 1926 / Copyright: Jens Brüning

Aber Gabriele Tergit gibt sich nicht geschlagen, sie läuft weiter auf ihrer Strecke: Sie erarbeitet sich Aufträge und geht als Schatzmeisterin und später Sekretärin des PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland auf. Fünfundzwanzig Jahre lang engagiert sie sich darin ehrenamtlich, trotz zunehmender Augenkrankheit und trotz weiterer Schicksalsschläge. Innerhalb von vier Jahren verliert Tergit ihren Sohn Ernst Robert Reifenberg, einen talentierten Mathematiker und begeisterten Bergsteiger, und ihren Mann. Dennoch bewahrt sie sich ein Stück Lebensfreude durch Reisen und Gartenarbeit.

Erst fünf Jahre vor ihrem Tod wird Gabriele Tergit besondere literarische Anerkennung zuteil. Sie wird als Schriftstellerin in ihrer Heimat neu- bzw. wiederentdeckt. Sie schreibt eine Autobiographie und findet Verlage für mehrere Manuskripte, deren Veröffentlichung sie allerdings nicht mehr erlebt. Der große Roman „Effingers“ sollte erst 2019 in Neuauflage im Verlag Schöffling & Co die ihm gebührende Beachtung erfahren. 1982 stirbt Gabriele Tergit in London.

Fazit

Gabriele Tergit hatte keine leichte Laufstrecke zu meistern. Sie lief mit den besten zusammen, bis sie nicht mehr mitlaufen durfte und neue Wege laufen musste. Sie kämpfte Jahrzehnte lang gegen das Vergessen werden, um erst im hohen Alter wiederentdeckt zu werden. Ich hoffe, rückblickend empfand sie die verlorenen Pfade und die Leerlauf-Kilometer als aufgeholt. 
Verzagt hat Gabriele Tergit nie. Das ist das Ausschlaggebende.

Als Ausgangspunkt meines Beitrags diente das im Oktober 2020 erschienene Heft 228 der Zeitschrift für Literatur „TEXT + KRITIK“. In 10 Beiträgen und Tergits Text „Umschichtung“ wird das facettenreiche Bildnis einer einzigartigen Persönlichkeit geschaffen, die es nach der Wiederentdeckung in den 1970er Jahren endlich wieder in die Reihen namhafter deutscher Schriftsteller zu integrieren gilt.

Die Werke von Gabriele Tergit sind im Verlag Schöffling & Co wieder aufgelegt:

Autorin: Lora Lalova / Praktikantin Monacensia

Lora Lalova (München) ist Kunsthistorikerin & Kunstpädagogin. Sie schreibt Prosa für Kinder und Erwachsene und studiert erneut. Eine ihrer Kurzgeschichten erreichte die zweite Runde des renommierten Münchner Kurzgeschichtenwettbewerbs und wurde auf StoryApp publiziert.

Autor*innen-Info

Profilbild Monacensia

Monacensia

Hier veröffentlicht die Redaktion der Monacensia Beiträge zu den MON_Mag Kategorien.

Beitrag teilen

Facebook
WhatsApp
X
Pinterest
LinkedIn
Reddit
Email
Print
Facebook

Empfohlene Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Weitere Beiträge

Newsletter

Mit unserem monatlichen Newsletter seid ihr stets über die aktuellen Veranstaltungen, Themen und Artikel aus dem MON_Mag der Monacensia auf dem Laufenden.

Wir freuen uns auf euch!



Anmelden