Erinnerungen an SAID: „Marie“, ein Theaterstück – Heike Anna Koch

Das Originalmanuskript des Theaterstücks „Marie“, mit einer persönlichen Widmung von SAID. Foto: privat

SAID starb am 15. Mai 2021 in München. Die Monacensia verwahrt den Nachlass des iranisch-deutschen Lyrikers und Schriftstellers. Zum Jahrestag erinnert sich Heike Anna Koch an ihre langen Spaziergänge und Gespräche mit SAID. Vor allem aber an das Theaterstück, das der Dichter ihr vor etwa 20 Jahren gab: „Marie“ reaktiviert Geschlechterrollen – und weist doch weit über diese hinaus. Warum wurde das Stück damals nicht aufgeführt? Und warum ist es höchste Zeit ist, es endlich auf die Bühne zu bringen?

Das Originalmanuskript des Theaterstücks „Marie“, mit einer persönlichen Widmung von SAID. Foto: privat
Das Originalmanuskript des Theaterstücks „Marie“, mit einer persönlichen Widmung von SAID. Foto: privat

Erinnerungen an SAID von Heike Anna Koch

Im Mai sind es zwei Jahre, dass SAID uns verlassen hat. Es sind also auch zwei Jahre ohne einen Spaziergang mit dem großen Dichter. Ich hatte nie eine Sekunde Zweifel an dieser Berufsbezeichnung für SAID. Ebenso wie bei Jossif Brodskij: Der russische Rebell gab dieser Berufsbezeichnung trotz aller gesellschaftlicher und vor allem politischer Widerstände stolz ein maskenloses Gesicht. Beide Dichter lebten im Exil! Brodskij – ein jüdischer Russe aus „Peter“ (Leningrad/St. Petersburg), der 1977 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft annahm. Und SAID, ein iranisch-deutscher Dichter, der erst vor dem Schah floh, dann vor den Mullahs. Der etliche Freunde in den Gefängnissen und außerhalb verfolgt und sterben sah, sich als PEN-Präsident für die Entrechteten einsetzte und in Deutschland, besonders in München, ein neues Zuhause fand.

Und doch stimmt es nicht. Ich denke oft an SAID und gehe in Gedanken mit ihm durch die Straßen. In der Hoffnung, dass er wieder eine schelmische Bemerkung macht oder auch eine freche oder eine sarkastische. Wir sind diese Wege durch die Parks mit dem Ziel Espresso manchmal eher gerannt als geschlendert, bloß kein Müßiggang! Engagiert und enthusiastisch von neuen Projekten geredet und Freunde beschworen für den Non-Konformismus jeder Couleur und Verurteilung derjenigen, die gehorchen, weil sie nicht selbst denken können.

Und schon vor etwa 20 Jahren drückte mir SAID ein Manuskript in die Hand und sagte:

Das ist mein Theaterstück. Mach was draus!

Wir saßen im Stadtcafé, gleich am Eingang, vor der Kuchentheke, und ich nahm das schwere Zettelbuch an mich. Ein Manuskript in einem braunen großen Kuvert – ein bewegender Moment. Es fühlte sich an, als wenn SAID mir sein Kind geben würde, zur Aufsicht, zur Reifung, in jedem Fall im Vertrauen!

Werke von SAID im Archiv der Monacensia. Foto: Monacencia
Werke von SAID im Archiv der Monacensia. Foto: Monacencia

Mehr als bloße Geschlechterrollen

Dieses Zettelbuch ist in Akte und Szenen aufgeteilt, gleich der aristotelischen Dramaturgie und doch im Spannungsbogen völlig anders als eine antike Tragödie oder Komödie. In jeder Szene wird das Hauptthema gefeiert und abgesungen. In jeder einzelnen Szene spiegelt sich das ganze Stück: Der Mann im Kleid des Rebellen, des Kirchenmannes oder des Militärs missbraucht seine Macht, wenn er selbst verführt und berauscht wird. Und er übt Gewalt aus, der er gerade noch abschwor. Dieser Fratzen-Mann quält eine Frau, die für das Weibliche schlechthin steht.

Das liest sich auf den ersten Blick schnell, zu schnell mit der sich aufdrängenden Interpretation von Stereotyp und Klischee. Aber eben nur für den flüchtigen Leser. Die Figuren haben doppelten Boden und stehen für mehr als bloße Geschlechterrollen. SAID war es sehr wichtig zu zeigen, dass das Verteilen und Anwenden von Macht immer noch (oder wieder) auch in der männlichen chauvinistischen selbstherrlichen geistigen Struktur verankert ist. Solange die alten tradierten faschistisch anmutenden Haltungen gegenüber anderen Lebewesen gelten, kann es keinen Frieden geben. Da ist es gleich, ob derjenige heute ein Priester und morgen ein Offizier ist. Wie sehr das weibliche Wesen gedemütigt wurde und wird – besonders durch sexuellen Missbrauch –, ist ein zentraler Teil in Marie. Diese Frau, die von allen Seiten und von allen Männern in allen Varianten der Macht-Rollen malträtiert wird, ist diejenige, die am Ende sich befreit durch so etwas wie Liebe.

Tragisches Gedicht oder Theaterstück?

Damals, vor vielen Jahren habe ich ein Regie-Konzept für das Stück geschrieben, das vielleicht nicht entschieden genug die Grund-Idee von SAID weiterspann. Ich war zu vorsichtig, wollte werktreu arbeiten. Das gefiel den Bühnen, die ich ansprach, nicht! Wieder auf einem der langen Spaziergänge ermutigte mich SAID, aus dem Stück etwas Eigenes zu machen, sofern die Grund-Idee bliebe. Da wurde aus dem Stück für die Bühne eine Peep-Show, also eine extra Verfremdungsebene, eingebaut, um der möglichen Eindimensionalität der Figuren keine Gültigkeit mehr zu geben. Aber auch jetzt fand sich keine passende Bühne. Ich gab das Stück einem befreundeten Regisseur in Weimar und bat um seine Meinung. Er kannte SAID nicht und schickte die Reaktion, die ich erwartete. Das Stück sei eher ein langes tragisches Gedicht als ein Theaterstück.

Heute sehe ich die Dinge anders! Heute würde ich die Poesie des Textes belassen, aber daraus ein tragikomisches Stück dramaturgisch gestalten. Die Figuren stilisieren, mit Tanz-Bildern durchbrechen, in jedem Fall die Meta-Ebene lassen. Denn die Kernaussage ist nicht weit davon entfernt, worüber Philosophen, Kulturwissenschaftler und Neurobiologen seit Langem diskutieren:

  • Kann geistige Entwicklung gemessen werden?
  • Wenn ja: Wie?
  • In welchem Verhalten?
  • In welchen Stresssituationen?

Ein Plädoyer für Denkprozesse

Es ist längst ein Allgemeinplatz, dass wir Menschen in unserer geistigen Entwicklung weit hinter dem technologischen Fortschritt hinterherhinken. Ich möchte nur den Biologen und Philosophen Humberto Maturana (1928–2021) erwähnen, der in seinen kulturbiologischen Schriften diesen Missstand anmahnte – über 30 Jahre lang! Schaue ich mir die sogenannte Vergangenheitsbewältigung in Deutschland an und die Aufarbeitung des Kolonialismus, so bewegt sich auch hier die Entwicklungsgeschichte nicht unbedingt von „innen“, von Kernerkenntnissen über faschistische Strukturen, über Chauvinismus, über den Umgang mit Macht und Stress. Es gibt sie, diese Studien, psychologische und philosophische Analysen. Aber sie fließen viel zu selten in die Prozesse ein, die von „außen“ gesteuert werden. Mit „außen“ meine ich Handlungen wie die Rückgabe geraubter Artefakte oder auch Critical Language Awareness (wofür es keine adäquate deutsche Übersetzung gibt).

Denkprozesse sind wesentlich langsamer und brauchen grundsätzlich mehr Zeit! Wie sagte Hannah Arendt:

Niemand hat das Recht zu gehorchen.

Allein die vielen unterschiedlichen Assoziationen für „gehorchen“ könnten Bibliotheken füllen. Die Konnotationen, die mir spontan einfallen, sind die Denkmuster des Faschismus von „unbedingtem Gehorsam“ bis in den Tod – den eigenen und den der anderen.

Und jetzt sind wir wieder bei Marie und SAID. SAIDs Männerfiguren sind als noch nicht „stark“ genug gezeichnet, mit Marie umzugehen, annähernd ihren Geist, ihre Gefühle, ihre Haltung dem Leben gegenüber zu erkennen. Diese Männer schlüpfen in unterschiedliche Kostüme und wechseln ihre Haltungen je nach Machtstatus, je nach narzisstischer Bedürftigkeit. Deshalb sind sie „schwach“ und gefährlich.

Lieber SAID, „Marie“ geht uns alle an. Und ich werde das Stück auf die Bühne bringen. Danke.

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Gefördert im Programm

Autor*innen-Info

Profilbild Heike Anna Koch

Dies ist ein Gastbeitrag von Heike Anna Koch

Heike Anna Koch arbeitet als Autorin, Regisseurin und Psychotherapeutin in München. Ihre Theaterstücke sind uraufgeführt in München und Hamburg. Forschungsschwerpunkte sind Erinnerungskulturen und Transmission von Traumata, in der Psychologie aber auch in der Literatur. Ihr besonderes Interesse gilt den Autor:innen, die Deutsch nicht als Muttersprache haben.

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