Christian Hödl arbeitet derzeit an einem Roman über die queeren 1980er Jahre in München. In „Anruf bei Arno“ beschreibt der 1994 in Bad Tölz geborene Autor, was ihn an den 1980ern besonders interessiert und warum ihn diese Zeit literarisch antreibt. Dafür verläuft er sich in vergilbten Reiseführern, studiert Kontaktanzeigen und imaginiert sich in so manche Münchner Szene-Bar – ein Beitrag zur Ausstellung* #PopPunkPolitik.
„Anruf bei Arno“ von Christian Hödl
Für meine Leut‘ war der größte Skandal der 1980er der Unterschank auf der Wiesn. Zum Glück ließ ein braver Kreisverwaltungsreferent
Dutzende von Geheimbeamten ausschwärmen, die Tausende und Abertausende von Maßkrügen observierten, um der ,schlechten Schankmoral‘ auf die Spur zu kommen. Gauweiler sann nach über ,verwaltungsbehördliche Einwirkungen‘ gegen die ,Unsitte des sogenannten Unterschanks‘, entwarf einen ,Maßnahmenkatalog‘ und setzte ,Verwaltungsmaßnahmen gegen das massenhafte Schlechteinschenken‘ und auch ,fühlbare Sanktionen‘ mit Zwangsgeldern und Bußgeldverfahren durch.1
Recht hod a g’habt!
Gepriesen sei unser braver Land‘svater, der mit harter Hand durchgreift. Weil wo kommt ma‘ sonst hin – oh, was ham wir uns nach Zucht und Ordnung g’sehnt, in dera unsteten Zeit.
Die Leut‘, von denen ich gerne erzählen will, sehnten sich da schon immer eher nach anderen Dingen.
SPORTLER
Kultiviert und einfühlsam.
Arno lässt Sie alle bisherigen Erfahrungen vergessen.
Mit mir können Sie sich überall sehen lassen.
089 / 484837
Die 1980er waren mancherorts auch Dekaden später noch nicht ganz vorbei, so auch in meiner Landjugend nicht. Ich fragte mich: Wie wäre es wirklich gewesen, sich damals mit offenen Augen durch jene Ecken „unserer scheenan Landeshauptstadt“ zu bewegen, die man sich in Hinterhofhausen ja kaum vorzustellen wagte?
Ich würde gerne mal einen Roman darüber schreiben.
Und über den Wind, der einem die Föhntolle verwuschelte, wenn man voller Erwartung die Müllerstraße hinabflanierte. Auf, ins Frisco (modisch bis ledriges Publikum), oder doch lieber in Fred’s Pub (Discothek, Dancing, US-Filme, Shows), oder ins Heaven (Maschendraht, Lichteffekte und Laufschrift)?
Ob dort heut‘ Nacht wohl ein SPORTLER unterwegs wäre, kultiviert und einfühlsam, mit dem sich alle Sorgen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schreibend vergessen ließen?
Ich hätte auch so gerne mal dieses ganz spezielle holzige Parfüm gerochen, das wie ein Schleier in der Luft hing, wäre gern dorthin, wo man speckiges Leder trug, und später hinter die dicken Samtvorhänge, wo Wangen glitzerten und Wimpern bis zu den Augenbrauen reichten. Heute ist da ein Hermes-Paketshop.
Deshalb begebe ich mich woanders auf Spurensuche; die im Paketshop wissen ja eh nichts Gescheites zu sagen.
Ich befrage eine ehemalige Königin Elisabeth die Zweite: „Ähm, wie war das jetzt eigentlich, 1985 im Mrs. Henderson, als zweihundert Adlige aus dem Geschlecht der Glockenbacher I Want To Break Free grölten? (Natürlich nur für geladene Gäste…) Erzählen’S mir alles, bitte!!!“
Deshalb verlaufe ich mich auf meiner Recherche in vergilbten Reiseführern, die die brandheißesten Spots Münchens anno 1983 und Co. von hinten beleuchten.
Im alten Botanischen Garten (neben dem Justizpalast) kann man ebenfalls sein Glück versuchen. Doch Vorsicht! Schwulen-Ticken erfreut sich hier leider einiger Beliebtheit. Manchmal auch Strich.2
Ich bin fasziniert, wie vielsagend Sprache doch sein kann: Meine Damen und Herren, Schnitzel mit Preiselbeeren erfreut sich hier einiger Beliebtheit … Ebenfalls auf der Tageskarte (LEIDER!): Schwulen-Ticken, Bon Appétit!
Ich feiere den Galgenhumor und die Unbeugsamkeit, die hinter diesen Worten hervorschimmern. Im Alltag wird der Widerstand geboren, auf den Straßen besiegelt. Ähm, na ja, zumindest so allmählich …
München erlebte am 28. Juni [1980] seine erste Schwulen-Demo. Lesben und Schwule zogen vormittags durch die Innenstadt, mit einigen Transparenten und vereinzelt bunt angezogen und geschminkt. Etwas müde wars wohl am Anfang, doch ein Grüppchen Mastrosen (echte), das dem Zug entgegenkam, wurde mit heftigem Gekreische begrüßt, und schon war die Stimmung gerettet. Am Viktualienmarkt und auf den Gehwegen standen die Mitbürger und guckten, unter ihnen viele Schwule (sicher mehr als Demonstranten), die sich nicht trauten, mitzugehen, oder einfach nicht wußten, warum sie’s hätten tun sollen. […] München ist schließlich nicht Amerika, wo inzwischen Hunderttausende an den alljährlichen ,Gay Pride Parades‘ teilnehmen, an bunten, grellen, lustigen, ordinären Umzügen – aber da gibt’s ja auch keinen Fasching wie hierzulande, wo Schwul einmal im Jahr sich das Ausflippen trauen kann.3
Auf so viel heroischen Straßennahkampf dann vielleicht erst mal zwei, drei Kurze bei der Mine, oder?
Bei Hermine, kurz Mine (wahrscheinlich heißt der Typ Herrmann) gab’s [keine] Anpassungsschwierigkeiten […] Am Nachmittag ist dieser Kneipen-Winzling mit seinem unanständigen Abort und dem vorzüglichen Kaffee eine schwule Oase im Großstadtgetriebe. Seine Kitsch-Dekoration nimmt es mit den gesammelten Raritäten eines Karl Valentin, im nahegelegenen Valentinmuseum (im Isartor), bei weitem auf. Mit dem kleinen Unterschied, daß Valentin seine Sammelobjekte selber saukomisch fand.4
Ich bestelle mir zwanzig Tiffany-Lampen und positioniere sie rund um meinen kleinen Ikea-Schreibtisch, um ein solches Ambiente möglichst authentisch nachzustellen. Ich flüstere: Gimme inspiration, Tiffany, ähm, ich meinte natürlich Mine!
Stundenlang überlege ich unter schummrigen Kristalllicht, mit wem ich damals wohl lieber geknutscht hätte: Arno oder doch Peter?
174/175, hell-blond
Peter steht seriösen Herren als Reisebegleiter, Gesellschafter, Callboy und Fotomodell zur Verfügung. Fotos zum Kennenlernen für DM 30,- , Haus- und Hotelbesuche.
089 / 351 82 26 oder 089 / 351 61 94
Vielleicht hätte ich aber auch die Finger von beiden gelassen, weil man von einem Tag auf den anderen plötzlich ganz schrecklich vorsichtig sein musste.
Immer noch gilt auch, dass rund 70% der Erkrankten Homosexuelle sind. Das macht die Krankheit zwar nicht zu einer ,Schwulenkrankheit‘, doch sind Homosexuelle dem Erreger offensichtlich stärker ausgesetzt. Als Übertragungsweg gehen Forscher weltweit von Sexualkontakten aus (die Gefahr für Ärzte, Pfleger, Betreuungspersonal oder für Freunde oder Bekannte, die Erkrankten helfen, besteht praktisch nicht), doch welche Art von Sexualpraktiken zur Ansteckung führen, ist völlig offen.5
Und im Stachus-Untergeschoss musste man sich gleich zweimal in Acht nehmen, vor den Schwarzen Sheriffs, aber auch vor Beamten in Zivil, die einen am Ende gar zu „Zärtlichkeiten herausforderten, welche polizeiliche Maßnahmen nach sich zogen“.6
Wir sollten nicht dem Versuch erliegen, die Probleme zu verdrängen. Wir müssen sie offensiv angehen. Wenn ich daran denke, welch potentielle Kraft wir Schwule haben, wenn ich aber auch daran denke, wie wenig wir diese Kraft umsetzen, dann war Stonewall ‘87 für mich kein Feiertag. Es war vielmehr ein Tag der Trauer!7
Ich würde gerne mal einen Roman schreiben, über diese ganz bestimmte Zeit voller Widersprüche, nur ein paar Jahre vor meiner Geburt, die mancherorts noch immer nachklingt, vor allem aber in meinen kribbeligen Fingern, hinter meinem Brustkorb.
Ich fackle also besser nicht mehr länger, sondern wähle: 089 / 484837. Mit klopfendem Herzen warte ich auf das Klicken am anderen Ende der Leitung, auf die über die Jahre dunkel gewordene Baritonstimme von Arno, „der Sie alle bisherigen Erfahrungen vergessen lässt“.
Ja, hallo?
Gäh aber Arno, wär des net schad‘ drum?
1 Der Spiegel, Nr. 22/1987, www.spiegel.de/politik/jetzt-muass-i-allmaehlich-bremsen-a-fa98269b-0002-0001-0000-000013524500 (Abruf: 23. Dezember 2021).
2 München von hinten. Lese- und Reisebuch für Schwule, Gays und andere Freunde. Bruno Gmünder Verlag, 1982, S. 214.
3 Homosexuelle Emanzipation_ISSN0171-6026_Nr.5_Sept/Okt 1980, http://archiv.csdmuenchen.de/2011/index.php/csd-muenchen-1980.html (Abruf: 23. Dezember 2021).
4 Vgl. FN. 2, S. 30.
5 Aus einem Artikel von Karl-Georg Cruse im kellerjournal, 1984.
6 Guido Vael (Schwuler Aktivist und Mitbegründer der Münchner AIDS-Hilfe, 1947–2020) in einer Anfrage an den Oberbürgermeister und die Verwaltung, vom 10. Mai 1984.
7Aus einem Kommentar von Guido Vael in Südwind – die schwule Zeitschrift in München, 1987.
Dieser Beitrag wird gefördert im Programm:
* Die Artikel-Serie zu #PopPunkPolitik verlängert die Ausstellung in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft Themen der 1980er Jahre aus literarischer und heutiger Perspektive.
Der Beitrag ist Teil von #PopPunkPolitik Vol. 2 – unserem digitalen Programm, das wir auf der Microsite zur Ausstellung in der Übersicht spiegeln. Schaut rein!