Warum und wie wandte sich Adolf von Hildebrand gegen den Naturalismus und Historismus seiner Zeit? Was zeichnet die von ihm begründete Münchner Bildhauerschule aus? Ein Beitrag von Dr. Birgit Jooss zur Dauerausstellung „Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa“.
Wenn außerhalb Münchens häufig von einer „Münchner Bildhauerschule“ im Sinne programmatischer Plastik gesprochen wird, so ist damit fast ausschließlich ein imaginärer Kreis um Adolf v. Hildebrand gemeint.1
Adolf von Hildebrand – Formprinzipien der tektonischen Plastik
Kein Geringerer als der renommierte Kunstkritiker Georg Jacob Wolf (1882–1936) kam 1914 zu dieser Einschätzung, die er mit vielen Kennern teilte. Adolf von Hildebrand (1847–1921) hatte seit 1906 eine Professur an der Akademie der bildenden Künste München inne. Er prägte mit seinem jüngeren Kollegen Hermann Hahn (1868–1945) die nachfolgenden Generationen von Münchens Bildhauer*innen bis in die 1970er-Jahre.
Hildebrand war dabei nicht nur ein hervorragender Praktiker, sondern auch ein bedeutender Theoretiker. 1893 hatte er in seinem viel beachteten Hauptwerk „Das Problem der Form in der bildenden Kunst“sein Programm veröffentlicht und damit das Fundament für ein neues Verständnis von Bildhauerei gelegt.2 Seine Auffassung fußte auf Ideen seines Freundes, des Kunsttheoretikers Conrad Fiedler (1841–1895). Dieser sah in der bisherigen Kunst zwei große Prinzipien:
- die Naturnachahmung der Wirklichkeit und
- die Umwandlung der Wirklichkeit.
Hildebrand plädierte zudem für die Hinzufügung eines dritten Prinzips:
- die Produktion der Wirklichkeit.
Hildebrands Denken war von grundsätzlichen Überlegungen zur Wahrnehmung geleitet.3 Er trat für eine klare und klassische Form ein. Dazu entwickelte er ein auf Fernwirkung berechnetes Figurenkonzept mit reduzierter Oberflächengestaltung unter Einbeziehung des umgebenden Raumes. Was für ihn zählte, war die Form mit der Betonung klarer Umrisslinien bei gleichzeitiger Reduzierung der Binnenmodellierung. Hildebrand verzichtete auf
- äußerliche Erzählfreude,
- Genreszenen und novellistische Züge,
- die Häufung von Requisiten und
- theatralisches Pathos.
Mit der von ihm geforderten Formstrenge richtete er sich vor allem gegen den vorherrschenden Naturalismus und Historismus seiner Zeit, deren „Realismus“ er als kunstfern und den „Wachsfigurenkabinetten“ verwandt bezeichnete. Folgerichtig konzentrierte er sich bei seinen Außenskulpturen eher auf Brunnenanlagen und schuf kaum Denkmäler im herkömmlichen Sinne. Mit dieser statuarisch orientierten Kompositionsweise gilt er als Begründer der tektonischen Plastik, die noch bis weit in das 20. Jahrhundert Bestand haben sollte.4
Ausbildung, bildhauerisches Wirken und die Münchner Kunstakademie
Der aus Marburg stammende Hildebrand besuchte nach seinem Studium in Nürnberg 1866 das Münchner Privatatelier des Österreichers Kaspar von Zumbusch (1830–1915). Mit diesem reiste er noch im selben Jahr nach Rom, Neapel und Pompeji. Dort erhielt Hildebrand entscheidende Anregungen und Impulse durch den Maler Hans von Marées (1837–1887) und den bereits erwähnten Kunsttheoretiker Conrad Fiedler, die er beide 1867 kennengelernt hatte.
1868 kehrte er von Rom nach Berlin zurück, wo er sich um die Aufnahme in die Schule von Reinhold Begas (1831–1911) bewarb. Begas galt damals als der bedeutendste deutsche Bildhauer jener Zeit und Hauptvertreter des Berliner Neobarock. Hildebrand wurde jedoch abgelehnt. Erst etwa ein Jahrzehnt später feierte er mit seinen Arbeiten Triumphe.
Sein Werk „Stehender junger Mann“ (1881–1884) war die erste prominente autonome Aktfigur in der deutschen Bildhauerei, die 1884 in einer großen Einzelausstellung in der Galerie Gurlitt 1884 gezeigt wurde. Die Nationalgalerie Berlin kaufte sie an. Es war der Durchbruch für den Künstler. Auch Hugo von Tschudi (1851–1911) erwarb später für die Nationalgalerie zahlreiche Porträts von der Hand Hildebrands. Gleichzeitig fand der Künstler bedeutende private Sammler, wie etwa Robert von Mendelssohn (1857–1917) oder die Familie Siemens.5
Seit 1891 hielt sich Hildebrand vorwiegend in München auf. Hier stellteer einen Teil seines plastischen Werkes im Kunstverein aus und erhielt den Auftrag für den Wittelsbacher Brunnen am Lenbachplatz, der 1895 eingeweiht wurde. Sein Wirken wurde in Deutschland stilbildend und wegweisend für die Brunnen- und Denkmalskunst. Zahlreiche Ausstellungen in ganz Europa und die Erhebung in den Adelsstand durch den Prinzregenten Luitpold von Bayern (1821–1912) 1904 zeugen von seinem Erfolg.
Gründung und Bedeutung der Münchner Bildhauerschule
Von Anfang an hegte Hildebrand den Gedanken, eine eigene Schule zu gründen, wie er 1891 an seinen Freund Fiedler schrieb. Ihm schwebte „in München ein Sommeratelier als Schule für direktes Steinarbeiten“6 vor. Diese wollte er zunächst als eigenes „Institut“ gründen, was ihm jedoch nicht sofort gelang. Erst nach dem Tod von Wilhelm von Rümann (1850–1906) und der damit verbundenen Vakanz der Bildhauerprofessur an der Münchner Kunstakademie konnte er seine frühen Pläne verwirklichen.
Ferdinand von Miller der Jüngere (1842–1929) holte Hildebrand – gemeinsam mit seinem Assistenten Erwin Kurz (1857–1931) – 1906 an die Akademie, wo er fünf Jahre unterrichten sollte. Rümanns Professur blieb zwar unbesetzt, aber Hildebrand erhielt dessen Sitz und Stimme im Kollegium. Die Korrektur in der ehemaligen Rümannschule übernahm Kurz, der ab 1906 auch eigene Schüler aufnahm und 1909 offiziell Rümanns Nachfolge antrat.
Hildebrand hatte für sich eine Sonderregelung ausbedungen: er verzichtete auf sein Gehalt. Dafür erhielt er Materialgeld sowie für seine Steinklasse den größten und imposantesten Atelierraum im gesamten Akademiegebäude: den Koloss-Saal. Er durfte sich seine Schüler frei aussuchen und hatte keine festgelegte Anwesenheitspflicht.
Nur neun Schüler, deren Namen heute weitgehend unbekannt sind, schrieben sich für Hildebrands Klasse ein7. Es dürften aber weitere bei ihm aufgenommen worden sein, die zunächst in der Zeichenschule inskribiert waren und später in seine Klasse wechselten. Zusammen mit Kurz baute Hildebrand eine Bildhauerklasse von weitreichender Bedeutung auf und schien seine Grundsätze gut vermitteln zu können:
Man merkt, ein ausgezeichneter Lehrer ist an der Arbeit, den Schüler anzuleiten, sein natürliches Empfinden, sein Formgefühl und seine Vorstellung zu entwickeln, zu fördern und zu stärken. […] Während man früher in den Naturklassen „Relief“ modellierte und die Bildhauer fast „malerisch“ arbeiteten, ist jetzt die Aufgabe, eine freistehende Aktfigur nach der Natur zu modellieren. Es ist klar, dass auf diese Weise das Kubische der plastischen Erscheinung, die Struktur und der organische Bau des Körpers, Proportion u. dergl. eigentlich erst erfasst und erkannt werden.8
Und so reichte Hildebrands Einfluss weit über seine Klasse hinaus:
Man spricht daher im Auslande kurzweg von einer Münchner Plastikerschule. In Berlin meint man damit die Hildebrand-Schule. Und man erzählt sich dort mehr über ihre Macht und ihren Einfluß als wir hier wissen9.
Mit Hildebrands Berufung gelang der Bildhauerei an der Akademie die endgültige Abkehr von allem Historischen, Dekorativen oder Narrativen.
Autorin: Dr. Birgit Jooss
- Georg Jacob Wolf: „Hermann Hahn“, in: Die Kunst. Monatshefte für freie und angewandte Kunst, 29. Bd., 29. Jg., 1914, S. 289–298, hier S. 289. Dieser Beitrag basiert auf einem Ausschnitt des Artikels: Birgit Jooss: „Die Münchner Bildhauerschule. Figürliche Arbeiten im Zeichen der Tradition“, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 2009, hg. von G. Ulrich Großmann, Nürnberg 2010, S. 135–169. ↩︎
- Adolf Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst. Strassburg 1893. ↩︎
- Norbert Wolf: „Die Plastik zwischen Denkmalkultus und Autonomer Form“, in: Hubertus Kohle (Hg.), Vom Biedermeier zum Impressionismus, München 2008, S. 243–250, hier S. 246-247. ↩︎
- Josef Adolf Eisenwerth: „Die Münchner Plastik der Zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts und ihre Stellung innerhalb der deutschen und internationalen Bildhauerei“, in: Justus Müller Hofstede und Werner Spies (Hg.), Festschrift für Eduard Trier zum 60. Geburtstag, Berlin 1981, S. 289–309, hier S. 290. – Barbara Eschenburg: Figürliche Plastik im Lenbachhaus, 1830–1980, hg. von Helmut Friedel. München 1997, S. 10–11. ↩︎
- Arie Hartog: „Eine saubere Tradition? Überlegungen zur deutschen figürlichen Bildhauerei“, in: Penelope Curtis (Hg.), Untergang einer Tradition. Figürliche Bildhauerei und das Dritte Reich. (Taking Positions). Leeds 2001, S. 30–41, hier S. 32. – Ursel Berger: „Münchner Bildhauer in Berlin“, in: Volker Probst und Max Brunner (Hg.), Gestalt – Form – Figur. Hans Wimmer und die Münchner Bildhauerschule, Güstrow 2008, S. 37–48, hier S. 38–39. ↩︎
- Sigrid Esche-Braunfels: Adolf von Hildebrand (1847–1921), Berlin 1993, S. 582. ↩︎
- Die Namen der Schüler waren Adolf Daumiller, Walter Hoeck, Hans Jochheim, Lauric Keller, Kurt Kroner, Hans Markwalder, Felix Schoenleber, Eugen Steinhof und Gerhard Wulfert, vgl. matrikel.adbk.de/07lehrer/lehrer/hildebrand-adolf-von/. ↩︎
- Zeitungsartikel „Bildende Kunst. Zur Erziehung des modernen Bildhauers, undatiert [1907], Nürnberg, GNM, DKA, NL Kurz, Erwin, I,B. ↩︎
- Alexander Heilmeyer: „Von Münchner Plastik“, in: Die Kunst. Monatshefte für freie und angewandte Kunst, 29. Band, 29. Jg., 1914, S. 131–154, hier S. 131–136. ↩︎
Förderung
Mit freundlicher Unterstützung durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München Abt. 4 Public History.