Lockdown in Deutschland und Italien: Die Schriftstellerin Sandra Hoffmann und die bildende Künstlerin Claudia Haberkern schreiben – jede für sich und dennoch gemeinsam – über ihre Erfahrungen der während der Corona-Pandemie verhängten Ausgangsbeschränkungen. Ein literarischer Austausch über Isolation, Hoffnung und die Macht der Sprache – unser viertes Tandem zu #WirinderZukunft.
aus dem Nichts, wurde im März dieses Jahres jedes italienische Haus eine Insel. Jeder Arbeitsplatz, jedes Auto auf der Straße, jede in der Einkaufsschlange stehende Person.
Es ist Frühjahr 2020, in Deutschland und in Italien werden wie in vielen anderen europäischen Ländern Ausgangssperren und -beschränkungen verhängt. Während in den Krankenhäusern Menschen in völliger Isolation um ihr Leben kämpfen, singen und tanzen zahlreiche andere auf ihren Balkonen gegen die Angst und die Einsamkeit an.
In ihren literarischen Texten beschreiben Sandra Hoffmann und Claudia Haberkern das Gefühl der Isolation, das sich von der Wohnung bis zum eigenen Körper hin verengt.
Mit ihrer Sprache öffnen sie sich neue Räume, heraus aus der Enge der Isolation.
Sandra Hoffmann: Körper und Quarantäne
Quarantäne ist ein einsamer Ort. Mein Körper kennt ihn seit seiner Geburt. Kaum war mein Körper aus dem meiner Mutter entschlüpft, musste er dorthin ziehen. Vielleicht kannte er nicht das Wort, Quarantäne, aber er erlebte, was der Ort bedeutete. Er hat verstanden, hier ist man mit seinem eigenen Herzschlag alleine. Keine Muttersprache mehr, nicht mehr die Wärme des anderen Körpers. Man ist neu da und im schlimmsten Fall ist da nicht einmal eine andere Stimme.
Im Alleinsein hört man seinen Körper am lautesten. Man hört das Herz schlagen, man hört die Geräusche des Magens, des Darms, und vor allem hört man seine eigene Stimme. Man hört ihr Grummeln und Brummen, ihr Zetern und Zweifeln, aber wenn man sehr genau zuhört, hört man vor allem, dass die eigene Stimme das Gespräch sucht. Das Gespräch mit einem Du.
In der Quarantäne spricht das Du im Ich. In der Quarantäne ist innen und außen plötzlich ein einziger Ort. Ich und du sitzen darin und unterhalten sich. Weil du aber keinen eigenen Körper hast, bekomme ich auch keine Antwort. Du hörst zu und bleibst sprachlos, weil du ich bist. Ich spreche mit Dir. Ich spreche und spreche. Ich spreche mir die Not und die Wut vom Leib, und ich stelle Fragen. Und eigentlich erwarte ich deine Antwort. Ich möchte, dass du sagst: hier bin ich. Ich bin der andere und ich habe eine eigene Stimme und ich habe ein eigenes Ohr und ein eigenes Herz und einen eigenen Magen und so weiter. Ich höre dir zu. Eine eigene Stimme nämlich ist ein eigener Körper. Der andere, dessen Stimme nicht aus mir herauskommt, nicht einmal in mir drinnen entsteht. Der, dessen Stimme nicht ich bin.
In der Quarantäne ist der eigene Körper auch der Körper des anderen. Ich bin behaust von einem Du. Du behaust mich, dabei bist du nicht einmal da.
Drei Wochen dauerte es, bis mein Körper nach der Geburt so gesund war, dass er die Quarantäne wieder verlassen durfte.
Bis heute frage ich mich, was ich da gefühlt habe. Bis heute bin ich nur gerne alleine, wenn ich Dich erreichen kann. Wer immer Du bist. Du befindest Dich nicht in mir. Du bist ein anderer Körper.
Claudia Haberkern: Isolation
Als Sandra mich vor ein paar Wochen fragte, ob ich ihr Tandempartner in diesem Projekt sein wolle, freute ich mich sehr! Die ursprüngliche Idee war, dass ich auf ihre Texte mit einer Skulptur oder einer anderen visuellen Arbeit antworte, z.B. Bozzetti aus Draht. Aber da kam nichts … ich war absolut blockiert. Also setzte ich mich hin und fing zu schreiben an.
Ich ziehe sie aus dem hintersten Winkel des Regals um noch einmal daran zu arbeiten … an dieser halbfertigen, völlig verstaubten Arbeit. Früher war sie mein ehrgeizigstes Projekt gewesen. Doch nun schau ich sie seit Jahren nicht mehr an. Erst heute gebe ich mich wieder mit ihr ab und will sie ein für alle Mal sorgfältig behauen um endlich zu verstehen, was mir dieses harte, dumpfe Wort zu sagen hat: “Isolation”. In einer ersten Phase war der Titel der Arbeit ein anderer; er war weniger sperrig. Aber seither ist verdammt viel Zeit vergangen. Ich habe ihn vergessen.
Das Muster war immer dasselbe: Trotz viel wühlen, kitten und kappen schaffte ich es doch nie, über den ersten, naheliegendsten Abschnitt des Wortes hinaus zu kommen: Isola, also Insel. Schließlich gelang es mir, irgendwie trotzdem Frieden zu schließen und mich zu begnügen: wenn dieses Ergebnis auch sehr bescheiden sein mag, sagte ich mir, dann habe ich wenigstens die elende Enge, die mit der Isolation einhergeht, in ein offenes Gebiet verwandelt, in eine Insel, die von Weite umgeben ist. Das war erstmal eine Tatsache und die habe ich – bei dem zurückgezogenen Lebensstil, der der meine geworden ist – wirklich gebraucht.
Dann, aus dem Nichts, wurde im März dieses Jahres jedes italienische Haus eine Insel. Jeder Arbeitsplatz, jedes Auto auf der Straße, jede in der Einkaufsschlange stehende Person. Jedes Krankenhaus. Nein, die Krankenhäuser nicht. Die waren keine Inseln, sondern isoliert vom Rest der Menschheit; die schwappten über von Menschen, die isolierter waren als alle anderen – Menschen, die – auf ihre Körper reduziert – mit oder ohne Schlauch im Hals – dazu gezwungen waren, allein die Bilanz ihres Lebens zu ziehen und ohne Abschied zu gehen. Es waren diese Sterbenden und diese Toten, die mich genötigt haben, mir die “Isolation” zum hundertsten Mal vorzunehmen.
So sterben … wie Aussätzige. Aus jedem Zusammenhang hinauskatapultiert. Zusätzlich zur eigenen, auch die Angst derjenigen aushalten müssen, die dich versorgen. Nicht die Möglichkeit haben für ein letztes Wort; ein letztes Wort vielleicht, zu dem man ein Leben lang nicht den Mut gefunden hat, und kein Recht auf einen letzten Wunsch. Niemanden haben, der deine Hand hält, nur den entsetzlichen Tumult eines Krankenhauses haben, der sich über deine eigene, unaufhaltsame, einsame Angst stülpt.
Zu diesem Zeitpunkt hatten die Menschen bereits begonnen, auf den Balkonen zu singen, zu tanzen und Musik zu machen. Ich fand diese Reaktion auf eine so dramatische, unvorstellbar klaustrophobische Situation bewundernswert; sie hat mich inspiriert. Ich ahnte, dass da ein Zusammenhang bestand mit meinem Kampf mit der Isolation.
Man sagt, Tod und Geburt seien die wichtigsten Momente unseres Lebens. Oder vielleicht bilde ich mir das nur ein und das hat nie jemand behauptet. Sicher ist aber, dass zwischen März und April 2020 viele Italiener vom unleugbaren Gefühl beherrscht wurden, das sei tatsächlich so und dass jeder einzelne Mensch einen würdigen Tod verdient; dass der Tod eine wichtige Bedeutung hat; dass isoliert leben manchmal unvermeidbar sein mag, isoliert sterben dagegen: Niemals! Ich hatte den starken Eindruck, dass das Tage waren, an denen das Mitgefühl aus dem Kompetenzbereich von „Frauen ab einem gewissen Alter“ hinaustrat, und unwillkürlich zum Allgemeingut wurde.
In derselben Zeitspanne fiel mir ein Gedicht von Giuseppe Ungaretti in die Hände: Dove La Luce (Wo das Licht). Der letzte Abschnitt, ein Fragment von fünf Zeilen, entpuppte sich als ein weiteres Mosaiksteinchen bei meiner Arbeit an der Isolation. Ich habe mehr und mehr weggeschnitten und vereinfacht und dann begonnen, mich auf Sol (also Sonne) zu konzentrieren. Es schien unmöglich, wenn nicht gar ein absoluter Quatsch, aber genauso, wie in normalen Zeiten niemand auf den Balkonen getanzt hätte, wäre ohne Ausnahmezustand wahrscheinlich auch diese Sonne nicht zum Vorschein gekommen. Wem würde es einfallen, sie jemals in der Isolation zu suchen? Aber ha!, da ist sie, in der zweiten Silbe: sie ist eine zuverlässige Wärmequelle; sie beleuchtet die Landschaft mit goldenem Licht und hat eine flüsternde, liebevolle und doch mitreißende, ja, eine transformierende Energie.
Die Zeilen von Ungaretti lauten wie folgt:
Venite! vi porterò
Alle colline d’oro
L’ora costante, liberi d’età
Nel suo perduto nimbo
Sarà vostro lenzuolo
Kommt! dorthin will ich euch tragen
Zu den goldenen Hügeln.
Befreit vom Alter, wird
Die dauernde Stunde
In ihrem unermesslichen Glanz
Euer Laken sein.
Ich gebe es zu: Dove la luce wurde nicht für die Toten geschrieben. Es ist ein Liebesgedicht. Ich habe das obige Fragment nur geringfügig verändert, sodass der Dichter mit vielen Menschen, anstatt nur mit seiner Geliebten spricht. Ich habe auch das Ausrufezeichen nach dem ersten Wort hinzugefügt. Ich habe mir die Musiker und Sänger auf den Balkonen vorgestellt, die durch Ungarettis energiegeladene Worte mit all den Landsleuten in Verbindung traten, die unter den verheerenden Covid-Umständen im Sterben lagen: dabei verwandelte sich einmal komplett die Atmosphäre in den Krankenzimmern, den Sälen und Gängen, aber auch die Atmosphäre in den Gedanken. Ich stellte mir vor, dass die Intensität des Liebesgedichts die bleierne Luft des Leidens wirklich wegblasen könne; dass die Sonne zum Vorschein käme; und ich stellte mir vor, das letzte Laken dieser Sterbenden sei aus Licht gewebt.
Sandra Hoffmann: Zuhause
…
komm, ich trage dich
zu jenen goldenen Hügeln.
Die Uhr steht still, wir sind der Zeit entronnen,
(aus Ungaretti "Wohin Licht?/Dove la luce?)
Seit ich die geworden bin, die ich heute bin, eine die sich die Welt beständig in Wörtern erklärt, eine die beständig auf der Suche ist nach Wörtern, jenen, die die Welt besser erklären, ist meine Welt besser. Ich habe ein Zuhause gefunden. Eines, das ich zuvor nie hatte. Zuvor unterschieden sich meine Wörter und jene der Menschen, mit denen ich lebte, so sehr, dass die Wörter verloren gingen auf dem Weg von hier nach dort, oder dass die einen Wörter und die anderen Wörter sich nicht trafen. Sie wanderten aneinander vorbei. Manchmal hielten sie inne, schauten sich an und manchmal verweilten sie, um nach kurzer Zeit wieder weiter zu gehen. Seit ich mich auskenne mit den Wörtern, seit ich in den Wörtern lebe oder in den Worten zuhause bin, seit ich mit Worten arbeite und Wort für Wort hinzufüge zu meinem Leben, bewege ich mich in einer Welt mit Menschen, die sich auch mit den Worten auskennen, oder jedenfalls um die Bedeutung von Worten wissen. Es ist mein Zuhause.
Als das Wort Virus in unserer Welt so eine Bedeutung bekam, wie Corona, wie Covid, wie Krise, wie Ausgangsbeschränkung, habe ich etwas Neues zu schreiben begonnen. Ich habe mich zurückgezogen in mich. Und ich habe gewartet. Darauf, dass sich die ersten Wörter zusammenfinden für etwas, was ich noch nicht kenne. Geschichten, da bin ich mir sicher, sind da, bevor ich sie kenne. Ich kenne Figuren, ich kenne Orte, ich kenne Stimmen von Figuren, und wenn es mir gelingt ihnen zu folgen, erzählen sie mir ihre Geschichte.
Ich wollte in der Krise nicht über die Krise schreiben. Ich wollte mich in der Krise auf den Weg machen, nach einer Geschichte, die lange vor der Krise da war und länger als die Krise bleiben wird. Ich begab mich in den Wald. Ich begann Wörter zu suchen, die sehr fern der Epidemie, die Farben des Waldes, der Wiesen, der Moose beschreiben, ich begann Wörter zu suchen, die die Geräusche des Waldes und seiner Tiere wiedergeben, ich begann Wörter für das Waldlicht zu allen Tageszeiten zu suchen, ich begann zu erzählen. Ich erzähle nach wie vor. Ich nahm wahr, wie die Wörter des Waldes Raum in mir einnahmen, der schnell viel weiter, größer, breiter, höher wurde, als jener Raum, den sich das Virus in mir zu Beginn der Krise genommen hat. Das Virus besetze meinen Wortraum. Wenn ich morgens aufgestanden bin, setzen sich die Wörter aus den Zeitungsmeldungen, den Nachrichten, den Forschungsberichten, den Kommentaren aus aller Welt so in mich hinein, dass ich voll war mit ihnen. So voll, dass die Wörter der Welt, in der ich saß und schaute, die Wörter des Waldes, die Wörter der Landschaft, die Sprachen der Tiere keinen Raum mehr in mir fanden. Die Wörter der Krise erschlugen die Wörter, die bereits da waren, und eine Geschichte werden wollten. Ich begann den Wörtern der Krise große Raum zu nehmen, ich begann den Nachrichten, den Meldungen und meiner Sorge andere, kleinere Räume zu geben. So dass es Räume ohne Krise und Räume mit Krise gab. Die Räume ohne Krise sollten weiter sein, als die Räume mit Krise. Als mir das gelang, sprossen die Wörter ohne Krise aus mir heraus, bildeten einen neuen Raum und schließlich begannen sie sich zu sammeln zu einer Geschichte.
Diese Geschichte wächst noch. Ich weiß nicht genau wohin, aber sie wächst dann gut, wenn ich ihr einen Raum gebe, in dem keine Uhr tickt und keine Krise.
Ich glaube eine Geschichte zu schreiben bedeutet, die Welt, in der wir gerade leben, für eine bestimmte Zeit zu verlassen. Zugunsten der Wörter, der Worte, die sich sammeln müssen in einem Raum, der nur der Geschichte gilt, die der Zeit entronnen ist. Da sind dann nur die Wörter der Geschichte und ich bin da zuhause.
Claudia Haberkern: Neue Räume
„Erfülle, erfüll die Luft – mit Solidarität!“. Das war kein Gedanke. Als ich mir dessen bewusst wurde, war es schon da. Ein Produkt meines Unbewussten, denke ich mir. Entstanden in der ersten Märzhälfte 2020. Das fand ich etwas pathetisch, aber die Art und Weise, in der es sich in meinem Bewusstsein einnistete, war mir sympathisch. Wie ein Merkspruch, ein Kinderreim.
Die Umstände allerdings, die hierfür Auslöser waren, hatten nichts Sympathisches. Weltweit konnte man den üblichen Kriseneffekt beobachten: Es traf diejenigen mit Wucht, denen es schon vorher schlecht ging. Mehr denn je schwappten die Nachrichten über vor unerträglichen Neuigkeiten. Zum Gesundheitsnotstand gesellten sich die Probleme des nackten Überlebens und auch im reichen Europa gab es Gegenden, wo soziale Proteste ein konkretes Risiko wurden. Ende März kamen in Süditalien Übergriffe an Supermarktkassen vor, wobei es sich nicht um Diebe handelte, sondern um Familien, die mit vollem Einkaufswagen aber leerem Geldbeutel den Laden verlassen wollten. Wo man hinsah, intensivierte sich das Leid. Eine entsprechende Liste wäre unendlich lang.
Vielleicht um diese Einsicht zu ertragen, erwachte das kleine Mädchen in mir und brachte obigen Merkspruch hervor. Und es ist nicht zu leugnen: wenn wir alle die Solidarität zusammen mit der Luft einatmen würden, wäre die Welt eine andere! Umwelt inklusive. Die Luft erfüllen, durchdringen. Wolken der Solidarität zustande bringen … Aber wie stellt man das an? Indem man atmet? Miteinander spricht? Arbeitet? Denkt?
Und wenn Idealismus wirklich unvermeidbar ist, warum dann nicht einfach: “Solidarität!!”. Der Gedanke, dass die Coronakrise einen Neuanfang ermöglichen würde, bei dem Werte wie eben die Solidarität die üblichen Mechanismen unserer Zeit außer Kraft setzen könnten, war für viele verführerisch. Aber selbst das kleine Mädchen in mir fand es schwer, daran zu glauben. Und so hat es eine subtile Methode erfunden, um die Solidarität, so als sei sie eine Medizin, allen, allen Menschen zu verabreichen: die Inhalation, das Einatmen.
Das Dilemma von Ideal und Wirklichkeit, wenn man die Welt (und sich selbst) betrachtet, scheint ein für alle Mal unlösbar zu sein. Darüber hinaus eignet sich das Zeitalter von social distancing und zunehmend forcierter digitaler Kommunikation kaum, ein Gefühl zu fördern, das der Solidarität auch nur ähneln könnte. Und angesichts der Hypothese vieler Wissenschaftler, dass diese Pandemie vielleicht bloß die erste einer ganzen Serie ist, die auf uns zukommt, muss man sich fragen, ob die Menschheit nicht dabei ist, sich in ungefähr acht Milliarden tektonische Plättchen aufzuspalten, die immer weiter auseinanderdriften.
Die Phase 1 des Lockdowns dauerte sieben Wochen. Da wo ich lebe, inmitten von Reisfeldern, gab es keine Kontrollen; das war mein Glück, weil ich zumindest durch die Felder streifen konnte. Aber ansonsten wandte ich mich nach innen, genauso wie Millionen, wenn nicht Milliarden andere auch. Im Haus, im Atelier, im Lagerraum, treppauf und treppab, herumwerkelnd an den entlegensten Winkeln, stieß ich auf eine Menge Dinge, Gegenstände und Erinnerungsstücke aus verschiedenen Phasen meiner Vergangenheit und mir wurde bewusst, dass sie fast alle für einzigartige und schöne Momente standen. Da kam einiges zutage und zusammengenommen ergibt sich eine kleine Sammlung.
Das fragilste Objekt war die Feder eines großen weißen Vogels, die ich vor ca. 30 Jahren im Parc de Belleville in Paris gefunden habe. Sie war noch immer weiß, aber an manchen Stellen von Insekten angeknabbert. Ein bisschen zerfetzt und zerzaust, rührte sie mich fast so als wäre sie ein Lebewesen. Oder der kleine herzförmige Stein, den das Wasser glattgeschliffen hat. Weihnachten 1987, am Strand von Punta del Diablo in Uruguay. Notabene … Punta del Diablo! Oder das kleine Schildchen mit meinem Namen und dem meiner Mitbewohnerin, das an der Tür unserer Kreuzberger Wohnung befestigt war. War das 1983? Oder der getrocknete, doch trotzdem wunderschöne Granatapfel, der aus dem Garten einer ehemaligen Liebe stammt. Oder das Parfumfläschchen – ein Design von Niki de Saint Phalle – das seit Jahrzehnten leer ist und doch noch immer duftet, wenn man es öffnet. Ein Geburtstagsgeschenk von meinem Vater, vielleicht zum Achtzehnten. Usw. usf.
Eine Sammlung großer und kleiner Freuden. Ich habe nicht aufgehört, mich zu wundern! Das ganze warf ein neues Licht auf die Vorstellung, die ich mir von meinem Leben gemacht hatte, das ich oft so negativ beurteile. Aber die eigentliche Entdeckung war, dass diese Erinnerungen einen Raum von seltener Leichtigkeit in mir aufmachten, ohne eine Spur von Nostalgie. Es ging nicht um die Vergangenheit, sondern um die Offenheit, die dabei entstand, wenn mein Bewusstsein sich mit Freude anfüllte. Mit einem Teil der Fundstücke gestaltete ich eine Ecke in der Nähe des Fensters Richtung Osten, mit dem Blick über die Felder. Mir gefiel die Vorstellung, dass sie das erste sind, was die Sonne am Morgen berührt und ich malte mir aus, wie sie den ganzen restlichen Tag “einfärben” würden.
Und hier, denke ich, trifft meine Erfahrung auf deine, Sandra. Beide haben wir einen neuen Raum entdeckt. Du durch deine Geschichte, die zur Welt gebracht werden muss. Ich durch ein neues Einverständnis mit mir selbst, eine neue Sicht auf mein Leben.
Ich denke, es gehört zum menschlichen Dasein, diese Art von Räumen zu erfahren. Aber vielleicht sind vor allem wir Künstler mit ihnen vertraut, denn wenn man nicht ständig erneut nach ihnen sucht, kann nichts Lebendiges entstehen. Und was wir geben können, wenn alles gut geht, sind: Räume. Natürlich nicht unsere persönlichen!, sondern die eigenen Räume desjenigen der schaut, liest oder hört. Solche Räume, so eine Geräumigkeit, gewiss, das ist eine Metapher, aber doch v.a. eine ganz konkrete Empfindung, auch eine körperliche.
Zuvor habe ich das Bild der tektonischen Platten verwendet, die immer weiter auseinanderdriften, um unsere Beziehungen unter dem Einfluss zunehmender Digitalisierung und der Möglichkeit eines erneuten Lockdowns zu beschreiben. Ich denke, dass es nichts gibt, das diese Tendenz stoppen könnte.
Aber die Erfahrung von Raum ermöglichen und sich gleichzeitig dafür sensibilisieren, “Raum-Vernichter” zu erkennen, bevor man von ihnen überwältigt wird, das könnte helfen.
Nicht wahr, jetzt ist aber die Solidarität auf der Strecke geblieben, bzw. das Erfüllen und Durchtränken der Luft mit ihr … ich werde weiter darüber nachdenken müssen. Aber dem Gefühl nach bin ich auf der richtigen Spur. Meine kleine Sammlung hat was damit zu tun. Und vor allem die Räume haben was damit zu tun.
Sandra Hoffmann: Wir sind verwundbar
… „impregnare“ schreibst Du, die Luft durchtränken, aber ich denke auch an „imprägnieren“, als hüpfte das Wort in meinen Gedanken gleich noch in sein Gegenteil. Ich denke an Hummeln und Bienen und Wespen, an Nachtfalter und Tagfalter, ich denke an Zitronenfalter und Pfauenaugen und Schwalbenschwänze, an Meisen und Amseln und Stare und allerlei Finken in allen Farben. Ich sehe Luftbilder und Lichtbilder, sehe Flugtiere vor Himmel, ich sehe Schwalben im Wind, Hochflug, Tiefflug, und alles so schön, denke ich. Und dann: stop! Heile heile Segen, morgen gibt es Regen, übermorgen Sonnenschein, dann wirds wieder besser sein.
Ich war in der Stadt, will ich Dir zurufen, dort in Italien inmitten der Reisfelder, wo Du lebst, ich war in Berlin, Hamburg und dass die Luft so tut, als wäre nie etwas gewesen, dass sogar die Menschen so tun, als wäre nie etwas gewesen. Es war aber was. Es ist aber was. Es hängt etwas in der Luft. Es durchtränkt etwas die Luft. Ich war in der Stadt, ich war im Himmel des Virus, Himmel der Tröpfchen, ich habe nichts davon gesehen. Der Himmel war ein schöner Himmel. Ich halte mich für verletzlich, und uns alle. Ich halte etwas davon, das zu sagen. Ich glaube daran, dass die Wahrnehmung und die Wortwerdung, dass das Sprechen etwas verändert.
Wir sind verwundbar, sage ich und was wäre, wenn wir uns das mal sagen? Guten Morgen, wir sind verwundbar! Guten Appetit, wir sind verwundbar! Schlaf gut, wir sind verwundbar! Schön, dich zu sehen, wir sind nämlich verwundbar! Gott, mir geht es heute so gut, wir sind verwundbar! Scheiß Tag, wir sind verwundbar! Was wäre, wenn wir aufhörten, so zu tun, als sei alles immer gut oder schnell wieder? Heile, heile Segen, morgen gibt es Regen, übermorgen Schnee, dann tuts nicht mehr weh! – Einmal, es ist acht Jahre her, und kein Märchen, da hatte ich Krebs. Ich bekam Angst um mein Leben. Heute, acht Jahre später, bin ich noch immer gesund. Aber es gibt keinen einzigen Tag, an dem ich nicht dachte, er könnte zurückkommen. Die letzten acht Jahre meines Lebens, waren vielleicht meine bisher besten! – Wir sind verwundbar. Und was wäre, wenn wir uns imprägnierten gegen den Glauben, es ginge alles so weiter wie zuvor? Prä-Covid = Post-Covid! Wenn wir uns imprägnierten gegen die Luft der Unverwundbarkeit? Was wäre, wenn wir uns durchtränkten mit der Verwundbarkeit? Was wäre, wenn wir uns solidarisierten, wenn wir heute beginnen würden, zu sagen: schau in den Himmel, er ist endlich. Wenn wir also in den Himmel schauten auf all die Bussarde, auf all die Milane, auf Fledermäuse, auf Schnepfen und Schnaken, auf die Hornissen und Honigbienen, auf die Maikäfer und Mistkäfer, auf Junikäfer und Leuchtkäfer, auf die Stare und Kraniche in Schwärmen, wenn wir anstatt nur ihre Schönheit zu lieben uns in die Augen schauten, und all das sagten, was wir wissen: Sie sind verwundbar. Wie wir. Und sie sind schön. Und sie sind schön, wie der Himmel schön ist. Und sie sind schön, wie das Leben.
Was wäre, wenn wir jeden Tag anstatt die Luft zu imprägnieren, uns solidarisierten gegen die Empfindungslosigkeit, gegen die Hoffnung, alles wird wieder gut. Wenn wir uns durchtränkten mit der Hoffnung, dass es schlechter weiter geht, aber wir dabei die besseren Menschen werden.
Claudia Haberkern: Morgen
Beim Lesen deiner Seite über die Verletzlichkeit, Sandra, kam mir wieder ein Gedicht von Ungaretti in den Sinn. Es gibt da eine Verbindung mit deinem Gedanken, vor allem wenn man weiß, dass das Gedicht 1917 im Schützengraben entstanden ist (Ungaretti war ein einfacher Soldat an der Front in der Nähe von Triest). Es sind drei Zeilen (einschließlich Titel) und auch die beste aller Übersetzungen kann nicht die absolute Schönheit und gleichzeitig die Kürze des Moments wiedergeben, in der diese absolute Schönheit für Ungaretti Wirklichkeit gewesen sein muss.
„Morgen“ gehört zu einem Sammelband mit dem Titel „Die Heiterkeit“ (!!!), in dem die Kriegsgedichte veröffentlicht wurden.
Die Covid 19 Zeiten sind oft mit dem Krieg verglichen worden. Offensichtlich ist das unangemessen, sogar sehr, denn wir verlieren dadurch den Sinn für Größenverhältnisse und unsere Wahrnehmung wird entstellt. Doch wenn diese Krise uns dabei helfen würde, wieder einen Kontakt herzustellen … zu Quellen, die uns aus dem Blick geraten sind … dann würde sie zu etwas anderem werden. Und wir vielleicht auch.
Ich würde also gern dieses Gedicht weitergeben; hat es nicht eine Aura von Kostbarkeit? Mir kommt immer ein Diamant in den Sinn, sobald ich daran denke. Und außerdem finde ich es schön, unseren Austausch mit dem Beginn eines neuen Tages zu beenden:
Morgen Ich erleuchte mich Durch Unermessliches Mattina M’illumino D’immenso Übersetzung ins Deutsche der Texte von Claudia Haberkern: Daniel Bayerstorfer
Hier geht es zu den Texten in italienischer Sprache.
Ein Projekt im Rahmen des 360°-Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft.
Sandra Hoffmann (*1967 in Laupheim, Baden-Württemberg) schreibt für DIE ZEIT, den Bayerischen Rundfunk und den Südwestrundfunk. Sie hat bisher fünf Romane und ein Jugendbuch veröffentlicht. Neben zahlreichen Preisen und Stipendien wurde sie zuletzt für ihren Roman „Paula“ mit einem Arbeitsstipendium des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst, einem Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds und dem Hans-Fallada-Preis ausgezeichnet. Sandra Hoffmann leitet Schreibseminare am Literaturhaus München und unterrichtet an den Universitäten Karlsruhe und Augsburg, sowie für Goethe-Institute im Ausland.
Claudia Haberkern (*1960 in Heilbronn) gelangte über Körpertheater und Performance Art zur Bildhauerei und bildenden Kunst. Ihre Arbeiten sind filigrane Transformationen, sie übersetzen Natur in Kunst. Seit 1993 stellt sie eigene Arbeiten aus. 2004 erhielt sie den Cesare Pavese Preis für Skulptur. 2011 nahm sie an der Venedig Biennale in Turin und 2013 sowie 2014 an der International Art Fair in Gyeongnam in Korea teil. Letzte Einzel-Ausstellungen: 2017 „Summer’s Distillation II“, Passionsspielhaus Selzach, Schweiz; 2015 „Summer’s Distillation“, Sicoh Gallery, Tokyo und „Disegni e Forme“ Creatini e Landriani Gallery, Sestri Levante. Seit 1990 lebt und arbeitet Claudia Haberkern im Piemont, Italien.
Wir in der Zukunft – acht Autor*innen und vier Tandems
Wie blicken Kunst und Literatur auf die Corona-Pandemie? Unter dem Motto „Wir in der Zukunft“ setzen sich acht Künstler*innen und Autor*innen aus vielstimmigen Perspektiven mit dem Virus und seinen Auswirkungen auf unsere Gesellschaft auseinander und treten dazu ein einen kreativen digitalen Dialog und Austausch. Sie bilden vier Tandems, ihre Perspektiven und biografischen Hintergründe sind divers. Die Ergebnisse präsentieren wir hier im Blog.
Bisher erschienen sind:
- Transatlantischer Briefwechsel: Globalisierung, Seuchen und Umweltschutz – Tandem 1
mit Silke Kleemann und Gabriela Cabezón Cámara
Correspondencia transatlántica: Globalización, pestes y ecología – Tandem 1 con Silke Kleemann y Gabriela Cabezón Cámara - Corona im Iran: Ein Film von Ayeda Alavie und Martin Pflanzer – Tandem 2
- „Ein Corona-Königreich in der Zukunft: Notenblätter, Bierkrüge und ein gestholener Traktor“ – Tandem 3 mit Denijen Pauljević und Jovan Nikolić