Radmila Petrović, eine der gefragtesten serbischen Nachwuchs-Lyriker*innen, schreibt exklusiv für #MYNCHEN Gedichte zum Thema Stadt-Land-Geld: Serbien – Land der Gegensätze.
Stadt und Land stehen in Serbien im krassen Gegensatz zueinander. Die Metropole und Hauptstadt Belgrad, in der fast ein Viertel der serbischen Bevölkerung lebt, wächst rasend schnell und verändert sich stetig. Die Altstadt mit den Gründerzeitvillen erstrahlt in frisch saniertem Glanz, in Neu-Belgrad schießen die Neubauten für Banken und erfolgreiche Unternehmen in den Himmel. Der Quadratmeter kostet hier bis zu 3.000 Euro. Auf dem traditionellen Land scheint dagegen eine andere Zeitrechnung vorzuherrschen. Viele Ortschaften sind verweist und zu Geisterdörfern geworden. Anders als in den großen Städten wird hier nicht in den Aufbau der Infrastruktur investiert. Häuser verfallen und die Natur erobert sich Raum zurück. Die Gedichte von Radmila Petrović übersetzte Denijen Pauljević ins Deutsche.
Radmila Petrović – Gedichte aus Serbien
Das Ferkel auf der Wall Street
es war Dezember
der Schnee fiel
wie auch der Aktienmarktindex
seit August schon
der Opa erzählte von Kriegen
und ich hörte
wie in der Ferne Kanonen donnern
obwohl ich wusste, es ist die Feuerstelle
voller Buchenholz
das Leben tickte, schuf Möglichkeiten
nicht hier
hier bekamen die Sauen
Junge mit dem ersten Schnee
wie Verse
reihten sich die Ferkel auf
wir entfernten die Schmiere von ihren Schnauzen
heizten das Feuer an
Spürferkel waren das
sie schnüffelten in den Ecken
erkannten, wo es am wärmsten war
und gingen zu ihrer Mutter zurück
danach kam der Frühling
in unser Dorf, nicht auf die Wall Street
und es gab keine Rezession
die unser Fest am Georgitag
verhindern konnte
die Ferkel waren knusprig
wir aßen und dachten
grausam ist dieser Kapitalismus
Brief an Vater
du sagtest, wir bewahren
den sozialen Frieden in Belgrad!
unser Dorf ernährt all die Leute
das stimmt nicht, Papa
weißt du wie viele Lebensmittelmärkte,
Drogerien, Hypermärkte es hier gibt
über die Menschen weiß ich nicht viel,
nur was beim Trocknen auf den Balkonen
ihre Kleidung verrät
bei uns redeten wir nicht über die Nachbarn
kannten sie aber besser als uns selbst
wir wussten, wie viel Rakija
sie hatten in welchem Fass
die Wände sind dünn
die Streitereien in der Stadt blass
aber sie sollten wie blutige Steaks sein –
was wäre das Dorf ohne Streitereien?
ein Stück Moos und hie und da ein Gänseblümchen
ihn habe ich lange nicht gesehen
groß ist diese Stadt, Papa
aber macht nichts, wir werden uns begegnen
wir begegnen uns immer
Ich kann es nicht wärmer
komm, ich habe ein Gut
einen Draht, durch den der Strom fließt
um die Kühe und die Nachbarin zu schützen
bald weiß sie mehr über uns als wir selbst
komm, dieses Dorf ist voller Zitronenmelisse,
Nachbarschaftsstreit und ungenutzter Talente
hier wirst du Kirschen essen
und stark genug werden
um IKEA aus der Lyrik zu verjagen
den Tannen vom Berg Tara bei uns den Raum zu gönnen
und den Kindern, deren Geburtstage nicht gefeiert wurden
komm, auf diesen Hügeln
enden Heliumballons
wenn sie den Straßenverkäufern entrissen werden
schöne Mädchen werden geboren
und die Jahre breiten die Männerschultern
mein Papa wird dich lieben
weil du an den Bergbach erinnerst
mit dem wir alle Äcker bewässern
auch ohne Regen hört er nicht auf zu tosen
alle meine Schulaufsätze sind über dich
komm und umarme mich, sodass ich wieder
neun Jahre alt bin
kannst du das immer noch?
Die Gedichte von Radmila Petrović können hier im serbischen Original gelesen werden:
Pesme Radmile Petrovic: Srbija – zemlja kontrasta | #MYNCHEN – 2
Stadt – Land – Geld #MYNCHEN
Was kostet die Stadt? Was kostet das Land? Und zwar nicht nur finanziell, sondern auch sozial, kulturell und psychisch. Gemeinsam mit internationalen Kulturschaffenden fragen wir im zweiten Teil von #MYNCHEN: Stadt oder Land? Und: Kann man sich die Wahl überhaupt leisten?
Hier stellen wir Euch die beteiligten Künstler*innen und Schriftsteller*innen vor:
Stadt – Land – Geld: Die Stadt im Blick von Kunst & Literatur | #MYNCHEN – 2
Das Projekt wird gefördert im Programm